Köhler, Manfred
Frage, dachte sich Lothar Sahm – dieser Mann hatte schon seltsame Ansichten. Aber er war ihm sympathisch geworden, er verabschiedete ihn mit der herzlichen Einladung, doch mal wieder vorbeizuschauen.
„Ich glaube, das muss ich nicht mehr“, sagte der Mann freundlich. „Ich habe aufgehört zu missionieren. Ich wollte Ihnen nur nicht als der seltsame Sektierer in Erinnerung bleiben. Viel Freude bei Ihrer Feier.“
Ach ja, die Feier. Es wurde eine der besonders anstrengenden. Man ließ ihn springen, den Fotografen und Zeitungsschreiber, den Leibeigenen für einen Tag. Hey, mach mal schnelln Bild! Du mit der Kamera, du bist doch hier nicht zum Spaß, jetzt warst im wichtigsten Moment aufm Pisspott! So wird das nix mit Trinkgeld, kriegst gleich noch was abgezogen. Komm hier mal rüber, von hier wird das eher was mit deiner Knipserei! Und mach gleich noch eins, ey, der hat grad ne arschblöde Fresse gezogen!
So und von Stunde zu Stunde derber ging das bis nachts um halb drei, er versuchte mehrfach zu entwischen, wurde aber immer wieder für ein garantiert letztes Foto zurückbeordert und mit Hinweis auf sein Wahnsinnshonorar zum Bleiben verpflichtet. Als er endlich vor seinem Haus einparkte, war er todmüde und aufgekratzt zugleich, genervt bis zur Verzweiflung und entschlossen, sich keinen weiteren Termin dieser Art anzutun. An seiner dunklen Haustür schimmerte im Licht der Straßenlaterne ein heller, rechteckiger Fleck. Ein karierter Zettel, akkurat gefaltet und an jeder Papierecke befestigt, vier weitere Löcher im grün gestrichenen Holz. Er riss das Papier von der Tür, ließ die Reißnägel stecken, sperrte auf, ging hinein, machte Licht und faltete den Zettel auseinander. Ellen hatte geschrieben: „Weißt du noch, mein erster Brief auf diese Art? Diesmal ist es viel, viel besser!!!“
Lothar Sahm legte den Zettel auf sein Nachtkästchen, zog sich aus und ließ sich aufs Bett fallen. In diesem Moment war er bereit, sich auf alles einzulassen, was Ellen ihm zu bieten hätte, auch wenn es bei Weitem nicht so gut sein sollte wie ein gemeinsames Reiseführer-Projekt. Hauptsache wieder unterwegs sein und sich nie mehr von stinkbesoffenen Schreihälsen herumkommandieren lassen müssen. Er freute sich darauf, sie gleich am Vormittag in ihrem Wohnwagen zu besuchen.
Kurz vor zehn Uhr riss ihn das Telefon aus dem Schlaf. Konni wünschte ihm einen Guten Morgen. Sie sei nun zurück, und wenn er möchte, könne man sich gleich treffen.
Sie sah gut aus, erholt und fröhlich, als sie sich an der Bank am Fluss gegenübertraten, unter der alten Linde. Befangen waren sie beide, für eine angemessene Begrüßungsform konnte sich keiner entscheiden, also blieb es bei einem langen Blick in die Augen, und sie berührte ihn schüchtern am Arm. Sie setzten sich.
„Ich hätte dir gleich sagen sollen, was mit mir los ist“, begann sie schließlich.
Er schwieg. Er wollte es nicht hören. Aber es ließ sich nicht verhindern, dass es nun herauskam. Unten am Ufer fütterte eine alte Frau die Enten.
„Weißt du wirklich nicht, woher wir uns kennen?“
Lothar Sahm schüttelte den Kopf, ohne sie anzuschauen.
„Wir haben uns damals sogar eine ganze Weile unterhalten. Ich hab dir erzählt, dass ich Germanistik und Journalismus studiere und dass wir mal einen deiner Artikel in einem Workshop untersucht haben. Das schien dich sehr zu verwundern. Ich dachte damals schon, der hält ja nicht viel von seiner eigenen Arbeit, und so ist es tatsächlich. Du musst dir einfach mehr zutrauen!“
Lothar Sahm fing sofort an zu analysieren. Kann man einen Menschen denn derart auf einen bunten Hut reduzieren und so gesichtslos abspeichern, dass man später den Hut erkennen würde, nicht aber das Gesicht?
„Ich hatte damals wirklich vor, dich anzurufen, aber dann ging es mir wochenlang so schlecht, die haben ein neues Mittel an mir ausprobiert, das hatte üble Nebenwirkungen, wirklich übel.“
Das Gedächtnis war schon ein seltsames Instrument. Gefühle konnten es austricksen. Sich nicht erinnern zu wollen und nicht in der Lage zu sein sich zu erinnern, es lag in der Natur der Sache, das nicht unterscheiden zu können. Man erinnerte sich einfach nicht.
„Na ja, aber... es hat gewirkt. Vielleicht war es aber auch mein Ziel, was mich gerettet hat oder beides. Ich war entschlossen, zur Hochzeit gesund zu sein und wieder Haare zu haben, und tatsächlich, also, es war im März, glaube ich, da haben sie das Zeug abgesetzt, und Mitte Mai,
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