Köhler, Manfred
Kleinstadtzeitung, und nicht nur die, das macht unseren Beruf doch aus. Auf der einen Seite die Ansprüche von Vereinen und Werbekunden, auf der anderen die eigenen Ansprüche, kritisch und neutral zu sein. Wenn man versucht, beidem gerecht zu werden, kommt am Ende kein Spitzenprodukt heraus, aber vielleicht eine halbwegs gute Zeitung, die wirtschaftlich überleben kann.“
„Sie können mir viel erzählen. Sie denken doch genau wie ich und jeder andere Kollege. Es geht nur darum, eine gute Story zu schreiben, uns allen. Die Geschichte steht im Mittelpunkt, sonst nichts, und da biegt jeder von uns auch mal die Fakten zurecht für eine fetzige Schlagzeile und nimmt es mit der Rücksicht auf die Leute nicht so genau, sofern man es sich erlauben kann. Gerade das ist die Ehre unseres Berufes. Unsere Schande ist es, jemanden nicht in die Pfanne zu hauen, der es verdienen würde, weil man Angst hat, dass man Ärger dafür bekommen könnte. Wer frech schreiben darf, der schreibt auch frech.“
„Also, das sehe ich anders.“
„Wieso? Sie sind doch das beste Beispiel. Hätten Sie die Kunstglosse neben den Museumsartikel gestellt, wenn Sie selbst für die Seite verantwortlich gewesen wären?“
„Die Frage stellt sich doch gar nicht, die Glosse war ja Ihre Idee.“
„Und wenn es Ihre gewesen wäre, hätten Sie?“
Er lächelte verlegen, und sie lächelte zurück.
„Ich kann es nicht sagen. Wenn man seit Jahren darauf geeicht ist, so manches lieber nicht zu tun, dann fällt es einem irgendwann gar nicht mehr ein.“
„Schön, dann wollen wir mal sehen, was Ihnen alles einfällt, wenn Sie Freiraum haben. Ab jetzt dürfen Sie so frech schreiben wie Sie wollen. Ich sortiere dann schon aus, was zu weit geht.“
Erst Maulkorb und dann plötzlich Beißbefehl, ich bin doch nicht euer Hanswurst, dachte sich Lothar Sahm. Er wollte seinen eigenen Leitsätzen treu bleiben, er begann zu schreiben, wie er es selbst für richtig hielt, und aus diesem Vorsatz heraus entstand während der folgenden Wochen eine Art journalistisch-weltanschauliches Gefecht zwischen ihm und Liane Czibull, ein Wettstreit, der über Inhalt und sprachliche Gestaltung der Artikel ausgetragen wurde. Die Zeitung profitierte davon: Dank ihres Bestrebens, erhaltenswerten lokalen Gegebenheiten so weit wie möglich entgegenzukommen, ohne ihren Anspruch drastischer Volksaufklärung zu vernachlässigen, und dank seines Bestrebens, Missstände nicht unerwähnt zu lassen, ohne dabei am Wurzelwerk lokalpolitischer Verflechtungen allzu rücksichtslos herumzujäten, stieg die Qualität der Berichterstattung in der Wallfelder Rundschau, zumindest was die beiden Tastatur-Duellanten betraf, erheblich. Nur Andreas Crähenberger litt: Ihm begannen die Opfer des Duos Czibull/Sahm nachzusagen, er habe seinen Laden nicht mehr richtig im Griff.
Obgleich Lothar Sahm bei alldem wieder Wohlgefühl für seinen Beruf in sich aufkommen ahnte und sich sogar eingestehen musste, dass er es genoss, keine Verantwortung mehr tragen zu müssen und sich freier entfalten zu können, freute er sich nicht weniger auf seinen Urlaub. Er paukte englische Vokabeln, er wälzte jedes Kanada-Buch, das er kriegen konnte. Und er nahm so manche strukturelle Änderung an seinem Romankonzept vor; in kleinen, kaum merklichen Schritten gelangte er zur Ur-Version seiner Geschichte zurück: junges Paar, das in seiner Heimat nicht zusammenkommen kann, flüchtet in fremdes Land in der Hoffnung auf gemeinsames Glück, muss aber entdecken, dass es nicht nur die Umstände waren, die das Glück zuvor verhindert hatten.
Dann war der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub heran. Liane Czibull bedauerte es aufrichtig, dass sie nun vier Wochen auf ihn verzichten musste, als Untergebenen wie auch als kritischen Gegner: „Aber trotzdem viel Spaß in Kanada, Lothar.“
Er selbst konnte eine wachsende Sympathie ihr gegenüber immer weniger, wie bisher, mit der Erinnerung an ihre früheren Hinterfotzigkeiten unterdrücken. Aber darüber wollte er sich jetzt keinen Kopf machen: Endlich ging es los! Für vier Wochen würde er die Rundschau aus seinem Bewusstsein verdrängen. Er war frei!
Nur der Gedanke an Sarah betrübte ihn. Seine letzten beiden Mails waren seit Wochen unbeantwortet, noch wusste sie nichts von seiner Reise. Ob er mit einem Besuch bei ihr überhaupt willkommen sein würde? Ihr langes Schweigen nahm ihm genug von seiner Wiedersehens-Vorfreude, um erstmals klar sehen zu können, wie grundverschieden
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