Köhler, Manfred
erleben, und doch machte jeder in Wahrheit seine eigene, ganz andere Reise.
Er sollte reichlich Zeit haben, dieser Einsicht nachzuhängen. Ellen fuhr und fuhr. Um 21 Uhr ließ sie, ohne ihn einzubeziehen, noch einmal eine Ortschaft mit Motel links liegen, von da an kam nur noch Wald. Es war nach 22 Uhr, er sah sich schon die Nacht im Auto verbringen, als sie die nächste Übernachtungsmöglichkeit erreichten. Sie fanden ein Lokal, in dem es Hamburger und sogar Bier gab, pappsatt legten sie sich schlafen.
Inzwischen waren sie so weit im Norden, dass es um 23 Uhr noch hell genug war, um auch in geschlossenen Räumen alles erkennen zu können. Ellen schlief wie immer sofort ein, ihm zugewandt auf der Seite liegend und weitgehend geräuschlos, und da lag sie nun, als sei sie für ihn zur gründlichen Besichtigung gebettet. Dieser Ellen traute er Gefühle wie Eifersucht zu. Eine ganz andere Ellen war das. Ungebändigt ihre übers Kopfkissen verstreuten Haare; fraulich wirkte ihr Gesicht, süß ihre kleine Nase, verlockend die Lippen. Es fiel ihm schwer, in diesem Gesicht die Härte und Sturheit zu finden, diese rüde Bestimmtheit, mit der sie sich tagsüber umpanzerte, ihre karierte Kraftmeierei.
Am nächsten Morgen war sie wieder ganz drahtige Reise-Despotin: „Auf geht’s! Wir müssen! Also los jetzt!“
Ein wenig sehnsüchtig versuchte er sich die Tonlage einer Ellen vorzustellen, wie er sie in der Nacht gesehen hatte, einer Ellen, wie sie ihm als Frau gefallen hätte. Wie mochte ihre Stimme klingen, wenn sie in einer Gemütslage war, die ihr Gesicht so weich gemacht hätte wie letzte Nacht im Schlaf?
Aber nicht, dass er einen Augenblick weniger an Sarah gedacht hätte. Nur x Stunden Fahrt, und ich wäre zurück bei ihr, nur y Stunden Fahrt... – mit diesem Spiel tröstete er sich seit Seattle, jeden Tag wurden es mehr Stunden, und doch waren es noch wenige genug. Er hatte das einzige Bild bei sich, das er von ihr besaß, das mit dem Nikolaus-Strumpf. Zuweilen, meist wenn Ellen sich fotografisch austobte, warf er einen Blick darauf.
Erst in Dawson Creek kam er auf das Naheliegende. Hier begann der legendäre Alaska Highway. Ein idealer Ort also, um mit Postkarten die Heimat zu grüßen. Derweil Ellen das steinerne Highway-Monument „Mile 0“ ablichtete, eher lustlos, denn fotografisch gab diese symbolische Markierung wenig her, ging er in einen Gemischtwarenladen und kaufte Ansichtskarten: für seine Eltern und Großeltern, für Freunde und Bekannte, für Liane Czibull, denn die war die Einzige in der Redaktion, die ihm einen schönen Urlaub gewünscht hatte – da fiel ihm ein, dass er auch Sarah eine Karte schicken und ihr seinen Besuch in Seattle auf diesem Weg ankündigen konnte. Es waren noch rund drei Wochen bis dahin, Zeit genug also. Von diesem Moment an war er obenauf. Nicht mal Ellens permanentes Genörgel konnte ihm die Laune verderben.
„Hast du dir das so vorgestellt?“, fragte sie alle paar Minuten.
„Eigentlich schon.“
„Du hast dir das so vorgestellt: bloß Wald und Straße? Was soll man denn da fotografieren?“
„Aber das war doch klar“, belehrte er sie genießerisch, „hier war bis zum Zweiten Weltkrieg nur Urwald, völlig undurchdringlich, das steht doch in jedem Reiseführer, wie schwer es war, die Straße überhaupt zu bauen. Als Versorgungsstrecke, wohlgemerkt, um einer möglichen Invasion der Japaner zuvorzukommen – nicht als Besichtigungsroute.“
Es gefiel ihm, auf ihren fotografischen Träumereien herumzusteigen. Jetzt war sie mal die Ernüchterte.
„Ja schon, aber trotzdem! Alaska Highway, wie das klingt – und dann das!“
Kurz darauf hatte Ellen ein Motiv, ein langersehntes: Sie trafen auf den ersten Bären der Reise. Einfach so am Straßenrand, ein ausgewachsener Schwarzbär, hockend wie ein Kleinkind auf seinem Windel-Hintern, umnebelt von einer Wolke von Mücken, mampfte er reife Pusteblumenköpfe, war eingepudert von den grauen Schwebsamen.
Ellen legte eine Vollbremsung hin, riss eine Kamera hervor, kurbelte das Beifahrerfenster herunter, beugte sich über ihren Beifahrer hinweg nach draußen und jagte innerhalb von Sekunden den Film durch. Der Bär ließ sich nicht stören. Lothar Sahm atmete Ellens Zitronenduft, spürte ihre Nähe – Nähe war untertrieben: Sie kniete förmlich auf seinem Schoß. Ganz kalt ließ ihn das nicht, obwohl natürlich auch für ihn der Bär die Sensation war. Ellen wechselte den Film. Sie öffnete ihre Tür, stieg auf
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