Köhler, Manfred
den Tritt des Wagenbodens und knipste übers Dach hinweg. Dann wurde sie mutiger, stieg aus, schlich ums Auto herum und stand nun ungeschützt in knapp zehn Metern Entfernung vor dem Bären. Der kaute weiter seine Löwenzahnblüten. Lothar Sahm steckte den Kopf aus dem Fenster, und sofort stürzten sich die Mücken auf ihn, die den Bären großräumig umschwirrten.
„Pass auf, der sieht nur so putzig aus!“, warnte er Ellen.
Die ließ sich nicht beirren, näherte sich dem Bären um weitere zwei Schritte. Lothar Sahm wurde es unwohl. Er hatte genug über die Schnelligkeit und Angriffslust dieser Tiere gelesen, um beunruhigt zu sein. Aus der Beunruhigung wurde Alarmiertheit, als Ellen weitere zwei Schritte machte, diesmal ein wenig vorsichtiger. Dem Bären wurde das trotzdem zu nah. Er hob witternd die Schnauze, machte einen ruckartigen Satz – und schon war er im Unterholz verschwunden. Nur die Mückenwolke blieb zurück.
Auf Ellens Gesicht und Armen erblühten furunkeldicke Schwellungen, als sie in den Van zurückstieg. Aber sie strahlte: „Das war’s!“
„Ganz schön riskant war das!“, schimpfte er. Mehr als ihr Leichtsinn ärgerte ihn, dass er sich deswegen vorkam wie ein Feigling.
„Ach was, der hatte mehr Bammel als ich.“
„Jedes Jahr werden Touristen von Bären gefressen, weil sie genauso selbstherrlich sind!“
Ellen lächelte ihn an. „Hattest du etwa Angst um mich?“, fragte sie, und das war genau die Stimme, die er sich am Morgen zu dem friedlich-fraulichen Gesicht vorgestellt hatte, das er seit der Nacht kannte, weich und herausfordernd, ganz leicht rau und verführerisch dunkel im Ton. Er nickte. Und erkannte zugleich: Eine andere Angst war das allerdings, als er sie um Sarah in der gleichen Situation gehabt hätte. Ellen streichelte ihm zum Dank für seine indirekt eingestandene Zuneigung mit dem Handrücken die Wange.
Am Abend im Motel endlich kam er dazu, seine Ansichtskarten zu schreiben. In Ellens Gegenwart fertigte er seine Verwandten ab, seine Freunde und Bekannten, seine Chefin...
„Czibull, wer ist das denn?“, fragte Ellen, die auf jeder Karte unterschreiben durfte.
„Eine Kollegin.“
„Ach so.“
Auf dieser einen Karte unterschrieb Ellen nicht. Als sie sich wieder in die Route des nächsten Tages vertiefte, kam Sarah an die Reihe. Er beeilte sich damit, klebte eine Marke drauf und ließ die Karte verschwinden. Wie mochte sie auf seinen Besuch reagieren? Egal wie, es würde als Hinweis darauf zu werten sein, wie sie zu ihm stand. Würde sie nicht zu erreichen sein zum angekündigten Zeitpunkt, war es zumindest sehr wahrscheinlich, dass ihr nichts an ihm lag.
Der nächste Morgen war der erste der Reise, an dem er nicht durch das entsetzliche Wecker-Gesumme aus dem Schlaf gerissen wurde. Er spürte etwas Warmes an seinem Oberschenkel. Noch ehe er sich aus der Tiefe des Schlafes nach oben getaucht hatte, wusste er, das war Ellens Hand, was ihn da berührte, ihr Handrücken. Er öffnete die Augen. Ellen schien zu schlafen, ihr Arm war unbeabsichtigt zu ihm herübergewandert. Oder?
Das war wieder diese andere Ellen. Er genoss ihren Anblick und ihre Berührung. Minuten dauerte es, bis die Hand sich zu bewegen begann. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert. Er schielte auf den Wecker. 5.17 Uhr. Noch 13 Minuten. Er dachte an Sarah und verspürte das moralische Bedürfnis, sich auf die Seite zu drehen, weg von dieser Hand. War Ellen nicht längst auch wach? Für eine Sekunde verließ die Hand seinen Schenkel und kehrte zurück, diesmal mit der Fläche, er spürte die Berührung der weichen Ballen und jedes einzelnen Fingers. Ellen öffnete die Augen. Sie hatte keine Überraschung im Blick, eigentlich überhaupt keinen Ausdruck, der dieser Situation in irgendeiner Weise angemessen gewesen wäre. Ruhig und freundlich schaute sie ihm in die Augen, ein wenig neugierig, vielleicht auch keck. Sie ließ ihre Hand nach oben wandern, ganz langsam, aber schließlich weit genug, um spüren zu können, dass ihre Berührung Wirkung bei ihm zeigte. Er dachte daran, was diese Hand an Körperteilen anrichten konnte, die weit weniger empfindlich waren. Und er dachte an Sarah. Er dachte daran, dass er eigentlich keinen Kontakt mehr mit ihr hatte. Wie viele Wochen waren es, die sie seine letzten beiden Mails unbeantwortet gelassen hatte? Er dachte an ihre überstürzte Abreise, dass sie sich nicht mal von ihm verabschiedet hatte. Nichts war er ihr schuldig, schon gar kein schlechtes
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