Köhler, Manfred
Gewissen!
Gerade war er gedanklich so weit, zu Ellen heranzurücken, aber er hatte etwas zu lange gezögert. Sie nahm ihre Hand zurück und drehte ihm den Hinterkopf zu. Der Wecker legte los. Sie sprang aus dem Bett, Fenster auf, Backen blähen, Kameras zählen... Als sei nichts geschehen: So verlief dann auch der Tag. Bis auf eine Kleinigkeit. Lothar Sahm steckte in den nächstbesten Briefkasten alle seine Ansichtskarten – außer die an Sarah. Nicht dass er sich dagegen entschieden hätte, sie zu treffen, aber es waren noch drei Wochen bis dahin. Er konnte sich Zeit lassen mit seiner Benachrichtigung.
An diesem Tag war es nicht auszuhalten mit Ellen. Am späten Vormittag entdeckte sie bei einem flüchtigen Blick in den Rückspiegel eine Wolkenfront.
„Scheiße!“, fluchte sie und spuckte dabei, ohne es zu merken, kleine schaumige Tröpfchen aufs Lenkrad. Ihr Ausbruch kam so laut, unvermutet und aus tiefster Seele, dass Lothar Sahm schon befürchtete, es sei was mit dem Wagen.
„Wolken, na ja“, meinte er erleichtert, „das war auch schon nicht mehr normal mit dieser dauernden Affenhitze. Immerhin sind wir auf dem Weg nach Alaska.“
„Jetzt kommen wir auf dieser langweiligen Straße endlich mal wohin, wo es was zu fotografieren gibt, und dann das!“
Er drehte sich um, begutachtete den Himmel.
„Ich glaube nicht, dass die so schnell heranziehen. Es ist ja außerdem nicht mehr weit.“
Gemeinsam mit den Wolken, die nun von allen Seiten den Himmel einkreisten, erreichten sie das Städtchen Watson Lake. Ellen war explosiv wie eine brennende Tankstelle: Einerseits war sie außer sich vor Begeisterung über die Attraktion dieser Stadt am Alaska Highway, den Signpost Forest, eine jedes Vorstellungsvermögen übersteigende Ansammlung von Schildern aus aller Welt; andererseits saßen ihr die Wolken im Nacken, verdarben ihr die Aussicht auf strahlende Fotos und damit die ganze Freude. Im Geiste fern einer Welt jenseits ihres Kalenderprojektes fegte sie durch den Schilderwald und ratschte in zehn Minuten fünf Filme durch ihre Kameras; dann waren die Wolken heran, und das bedeutete Stillstand. Wie versteinert harrte sie vor einem Motiv aus, das ihr lohnend erschien, und blinzelte zum Himmel, wüste Verwünschungen flüsternd.
Für Lothar Sahm bedeutete ihr Warten auf Wolkenlöcher: Er konnte diesen außergewöhnlichsten Park Nordamerikas in aller Ruhe auf sich wirken lassen. Zunächst informierte er sich im Besucherzentrum über die Entstehungsgeschichte vom ersten Schild, das ein heimwehkranker Soldat in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts an einen Holzpflock genagelt hatte, um den Namen seiner Heimatstadt vor Augen zu haben – hin zu inzwischen Hunderten von Pfählen mit Zehntausenden von Schildern, die Touristen bei ihren Reisen über den Alaska Highway hierher mitgebracht hatten. Bei seinem Bummel durch den Irrgarten aus Buchstaben und Farben entdeckte er so manches deutsche Schild, auch auf eine Ortstafel von Wallfeld stieß er, und zwischen den Schildern immer wieder auf Besonderheiten wie Fahnen, Stiefel, Kochtöpfe und sogar ein Schlagzeugbecken, alles signiert von den Vorbesitzern. Ringsum hämmerte es, ständig waren irgendwo Touristen damit beschäftigt, sich möglichst auffallend zu verewigen.
Nach zwei Stunden war seine Begeisterung verklungen, er hatte bei Weitem nicht alles, aber genug gesehen. Ellen war noch lange nicht so weit.
„Vielleicht in zwei Stunden oder lieber in drei...“
Also vereinbarten sie, sich um 18 Uhr am Auto zu treffen. Er hatte im Reiseführer eine weitere Attraktion ausgemacht, das „Northern Light Center“, ein Forschungszentrum für Nordlichter. Er ließ sich viel Zeit dafür, endlich mal ein Tag nach seinem Geschmack, bummelte danach noch die Hauptstraße entlang und war kurz vor 18 Uhr am Auto. Einsteigen konnte er nicht, Ellen hatte den Schlüssel. Die aber kam nicht.
Um 18.30 Uhr beschloss er, sie zu suchen. Um 19.30 Uhr hatte er den Signpost Forest gründlich abgesucht, wohl nicht vollständig, dafür war das labyrinthische Durcheinander zu unübersichtlich, aber er hatte alles nach ihr abgerufen. Kein Mucks von Ellen. Um 20 Uhr verging ihm sein Ärger, er begann sich Sorgen zu machen. Um 21 Uhr meldete sich mit grollendem Hunger der Ärger zurück, begleitet von wachsender Besorgnis. Er war kurz davor zur Polizei zu gehen, und sei es nur, um ein Zeichen zu setzen.
Kurz nach 21.30 Uhr kam Ellen quietschvergnügt angefahren. Sie hockte neben einem
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