Köhler, Manfred
hatte die Nachbarin, der er zum Pflanzengießen einen Hausschlüssel anvertraut hatte, seine Post gestapelt. Darunter war nur ein Umschlag, der ihm wirklich etwas bedeutete, von Sarah kam er, eingetroffen war er schon vor drei Wochen. Sie hatte diesen Brief einen Tag nach seinem ersten Besuch in Seattle geschrieben, genau in der Zeit also, in der er unentwegt und intensiv an sie gedacht hatte – da hatte sie auch an ihn gedacht.
„Tut mir so leid, dass ich so lange nicht auf Deine Mails geantwortet habe!“, übersetzte er. „Ich habe einen Job als Kassiererin in einem Wal-Mart gefunden, natürlich nur vorübergehend, bis ich weiß, was ich wirklich machen will; durch den Job kann ich mir ein eigenes Appartement leisten, Du musst mich unbedingt besuchen kommen. Seattle ist eine faszinierende Stadt, ich kann Dir so viel zeigen. Wann kannst Du kommen? Schreibe mir bald. Deine Freundin Sarah.“
Dieser Brief, so sehr er ihn als Schabernack des Schicksals beklagte, versöhnte ihn auf der Stelle mit dem Gefühlszwiespalt, den er zu erleiden gehabt hatte. Eigentlich war es doch viel besser so: Ein ganzer Urlaub nur mit ihr! Wer weiß, wie es verlaufen sein würde, wäre er ihr bei der zurückliegenden Reise uneingeladen begegnet, zeitlich stark eingeschränkt und Ellen im geistigen Schlepptau. So aber war er ihr willkommen, sie wollte ihn sehen, er würde ganze Tage nur mit ihr verbringen und, wer weiß, vielleicht auch noch mehr. Damit wurde dieser Samstag, der Tag seiner Rückkehr, zugleich auch ein Tag neuen Aufbruchs.
Gleich am Sonntag sichtete und ordnete er seine Aufzeichnungen. Nun galt es, die Fantasiewelt seiner Geschichte mit der beobachteten Realität in Einklang zu bringen. Täglich eine Stunde vor Dienstbeginn wollte er künftig konsequent an seinem Roman arbeiten.
Am Montag gelang ihm das recht beschwingt, er ordnete der einen oder anderen Stelle seines Entwurfs die eine oder andere Beobachtung zu; wenn er nur so weitermachte, würde seine Geschichte schon die richtige Richtung einschlagen und zum Leben erwachen. Unwillig machte er sich auf in die Redaktion, wurde aber von den Kollegen so freundlich begrüßt, beinahe übertrieben herzlich, dass er sich dort fast zu Hause fühlte. Allerdings verursachte ihm die Frage „Wie war es denn in Kanada?“ bald merkliches Unbehagen. Es lag ihm nicht, dieselben Geschichten immer wieder zu erzählen. Er war Liane Czibull verbunden dafür, dass sie sich ähnliche Fragen verkniff, sich nur für die Postkarte bedankte – sie hatte sie über ihrem Computer an die Wand geheftet – und ihn dann aus ihrer Sicht in Veränderungen einwies, die sie während seiner Abwesenheit eingeführt hatte und über die ihn Mandy und Steffi schon, keifend vor Empörung, unterrichtet hatten: „Stell dir vor, was deine Liane neuerdings verlangt...!“
Was sie da im Einzelnen Neues verlangte, behagte auch ihm nicht besonders: Um die Wallfelder Rundschau lebendiger und unverwechselbarer zu machen, sollten mehr selbstrecherchierte Hintergrundberichte und Reportagen ins Blatt und zudem mehr Glossen und Kommentare, das alles natürlich zusätzlich zu den bestehenden Aufgaben. Und weil Liane Czibull genau wusste, dass die bloße Forderung „mehr“ zu unbestimmt war, um konkrete Taten damit durchzusetzen, gab sie kurzerhand verbindlich „jeweils mindestens eine täglich“ vor und entließ die gesamte Redaktion nicht eher in den Feierabend, als bis das Soll erfüllt war. Offiziell, übrigens, dem Impressum nach, war immer noch Walter Wonschack der Redaktionsleiter.
Am Dienstag ereilte die neue Regelung auch den Urlaubs-Rückkehrer. An der Art, wie ihm Liane Czibull erneut ihr Konzept erläuterte, diesmal angereichert mit mehr Details, und ihn dann auf Reportage schickte, ließ sich ahnen, dass er als die Hauptsäule einer auf mehr Qualität hin umkonstruierten Lokalzeitung vorgesehen war – eine Ehre, auf die er gerne verzichtet hätte. Über drei Ecken bekam er nämlich mit, dass es sich unter Kollegen, die ihm weniger nahestanden, in der Zeit seiner Abwesenheit eingebürgert hatte, von ihm nur noch als „Lianes Lothar“ zu sprechen.
Unter diesen Umständen kostete es ihn einige Überwindung, schon am zweiten Tag nach vier Wochen Urlaub anzufragen, ob er dieses Jahr noch einmal ein paar Tage frei haben könnte, am besten eine Woche am Stück; dabei hätte er seinen Wunsch am liebsten gleich am ersten Tag vorgetragen. Er hatte keinen Urlaub mehr, nur einen Berg aufgelaufener
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