Köhler, Manfred
Überstunden. Einen solchen hatte jeder in der Redaktion, und jeder hätte seinen persönlichen Berg gerne abgebaut, was angesichts der gestiegenen Arbeitsbelastung nicht so ohne Weiteres möglich war. In seinem Fall aber machte Liane Czibull eine Ausnahme. Anstandslos trug sie den Namen Sahm für Anfang November in den Urlaubskalender ein, für zwei Wochen sogar. Umgehend ergänzte er diesen Zeitraum in seiner ansonsten fertig geschriebenen Mail an Sarah und schickte sie ab.
Am Mittwoch früh kam er endlich darauf, was ihn die ganze Zeit in seinem Badezimmer gestört hatte. Die Seifenschale lag links vom Wasserhahn. Ob sie früher rechts gelegen hatte, wusste er nicht mal mehr, aber offenbar hatte seine Nachbarin während seiner Abwesenheit das Bad benutzt und ein paar Details verändert. Jedenfalls ging der unbewusste Griff nach der Seife seit seiner Rückkehr grundsätzlich zunächst ins Leere, was ihn immer wieder aufs Neue verwirrte. Kaum hatte er die Seife wieder nach rechts gelegt, war die Störung beseitigt. Dieser kleine Ruck des Erkennens und der kleine Schreck über das Ausmaß seiner Festgefahrenheit öffnete ihm die Augen für eine weitere Einsicht. Er überflog, beim Kaffeetrinken, einmal mehr seine Aufzeichnungen – und erkannte sie in einer plötzlichen Erleuchtung als unbrauchbar für sein Romanprojekt. Wie sollte er den Neuanfang seiner Figuren leserfreundlich anreichern mit Fakten wie Motelzimmer-Innenarchitektur, exakten Zeiten von Mondauf- und Sonnenuntergang im Monat Juni an verschiedenen Orten Kanadas oder gar detaillierten Schilderungen manch kleinen Ärgers über Ellens Marotten? Seine weibliche Hauptfigur hatte ganz andere Gefühle bei seiner männlichen Hauptfigur auszulösen. Den ganzen Arbeitstag lang grübelte er darüber nach, wie seine Geschichte zu retten sei. An diesem Tag warf zufällig Kollegin Steffi einen Blick auf den Redaktions-Urlaubsplan, Monat November. Gemeinsam mit Kollegin Mandy modifizierte sie daraufhin Lothar Sahms Spitznamen von „Lianes Lothar“ in „Lianes Liebling“.
Am Donnerstag war er kurz davor, Ellen auf dem Campingplatz zu besuchen. Es schien ihm nämlich, dass er wegen dem, was zwischen ihr und ihm stand, mit seinem Roman auf Grund gelaufen war, bevor er den Hafen noch richtig verlassen hatte. An einer Geschichte zu arbeiten, die in Nordamerika spielte, erinnerte zwangsläufig an Geschichten, die man selbst dort erlebt hatte, und manche dieser Erinnerungen waren nicht gerade beflügelnd. Vielleicht war ja doch noch was zu retten. Zwar hatten sich Ellen und er recht herzlich verabschiedet vor fünf Tagen, aber wie hätte sie auch abweisend zu ihm gewesen sein können angesichts seines ehrlich gemeinten Eifers, ihr gegen ihren Willen die Taschen vom Auto hoch zu ihrem Wohnwagen zu tragen? Er hatte wirklich vor, sie zu besuchen und zumindest die Freundschaft mit ihr einzurenken, aber sein Nachtdienst zog sich länger hin als vorgesehen. Erst nach 21.30 Uhr kam er aus der Redaktion, und er war froh, sich auf die selbstaufgestellte Anstandsregel berufen zu können, dass man um diese Zeit niemanden mehr überraschend besuchen durfte. Am nächsten Tag, ganz sicher, würde er sich bei ihr melden.
Ellen kam ihm zuvor: Am Freitagvormittag rief sie ihn in der Redaktion an.
„Hi, tut mir leid, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen. Du, ich brauche dringend was von dir.“
Lothar Sahm war erleichtert, er war direkt überschwänglich vor Glück darüber, dass sie von sich aus auf ihn zukam und das auch noch in einem Ton, als habe es nie eine Missstimmung zwischen ihnen gegeben. Das war wieder die robuste, großkarierte, händequetschende Ellen, wie er sie kennengelernt hatte und gar nicht anders kennen wollte.
„Schön, dass du dich meldest!“, rief er. „Wie geht es dir denn?“
„Danke, sehr gut. Ich bin gerade in Berlin, du weißt schon, bei dem Verlag, der den Kalender macht. Die wollen wissen, wie die Reise sonst so war, und da dachte ich, wenn du nichts dagegen hast, zeige ich ihnen halt mal deine Texte, vor allem den einen über den Abstecher zum Gletscher. Du hast doch sicher deinen Laptop mit in der Redaktion. Kannst du die Texte gleich mailen? Ich gebe dir mal jemanden vom Verlag, warte...“
Eine einstudiert besonders freundlich klingende Frauenstimme nannte ihm in leichtem Berlinerisch eine E-Mail-Adresse. Er notierte sie, legte auf und stöpselte seinen Laptop an die Telefonbuchse. Ihm fiel ein, dass er die Texte seit damals
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