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Köhler, Manfred

Köhler, Manfred

Titel: Köhler, Manfred Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irrtümlich sesshaft
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vor, er wagte es, Tempo und Lautstärke zu variieren, seiner Stimme besonderen Ausdruck zu geben, sie als Mittel zur Betonung der Dramaturgie seiner Texte einzusetzen. In diesem Zustand, ganz eins, mit dem, was er tat, nahm er zwar noch wahr, dass die junge Frau nach etwa einer Stunde den Saal verließ, aber dann vergaß er sie.
    Dass sie nicht zurückgekommen war, fiel ihm erst auf, als das Licht wieder anging und ihm der leere Platz in der Mitte der ersten Reihe ins Auge sprang. Während der halben Stunde, in der er und Ellen Bücher zu signieren und Fragen zu beantworten hatten und Ellen durch ihren Händedruck manch bleibende Erinnerung hinterließ, diese 30 Minuten lang suchte er sie, ging mit dem Blick über jedes Gesicht, aber sie fehlte. Warum war sie gegangen? Woher kannte er sie bloß?
    Während der Heimfahrt zog es seine Erinnerung immer wieder zu dieser einen jungen Frau zurück, er verglich die neue, ganz konkrete Erinnerung mit den vagen, unbestimmten, früheren Gedächtniseindrücken von ihr, die sich zeitlich nicht einordnen ließen. Vielleicht hatte er sie mit einer anderen Frisur oder Haarfarbe kennengelernt, vielleicht war sie damals dicker oder dünner gewesen – oder sie erinnerte ihn nur an eine andere Frau, die er flüchtig kannte. Jedenfalls war er froh, dass Ellen darauf bestanden hatte, vom Verlag kein Hotel reservieren zu lassen, sondern in der Nacht noch nach Hause zu fahren. Er konnte sich denken, was sie bewogen hatte, noch immer trug sie ihm den letzten Tag in Seattle nach. Es war schon seltsam, immer wenn der Gleichklang mit Ellen am intensivsten hätte sein können, auf engstem Raum bei der Reise oder jetzt im gemeinsamen Erfolg, mischte sich in Gedanken eine andere Frau dazwischen. Merkwürdig auch, dachte er, wie wir mit unserer Zusammenarbeit umgehen: Andere Leute würden das, was ihr und mir heute gelungen ist, in irgendeiner Weise feiern – wir aber sitzen stumm im Auto nebeneinander und fahren nach Hause, statt morgen noch einen Tag auf der Buchmesse dranzuhängen. Überschätzte er in seinem Zustand den Erfolg dieses Tages? Er fühlte sich wie nach einer Infusion purer Energie, er hätte laut lachen können, schreien, herumtanzen oder am liebsten noch ein paar Stunden vorlesen und mit dem Publikum kokettieren, gern mit tausend und mehr Zuhörern.
    „Ist ganz gut gelaufen, oder?“, fragte er die vor sich hin brütende Ellen.
    „Wie man’s nimmt.“
    „Wieso, also die Leute waren doch begeistert von deinen Bildern und hinterher sehr interessiert an den Büchern.“
    „So interessiert, dass wir gerade mal elf Bücher verkauft haben – bei rund 130 Zuschauern. Von der Presse habe ich auch niemanden gesehen.“
    „Aber der Verlag scheint mir ja recht tüchtig zu sein. Haben die was gesagt wegen Alaska?“
    „Ja – dass sie jetzt doch erst mal die Verkaufszahlen von Kanada abwarten wollen, vor allem das Weihnachtsgeschäft. Vor Januar wird da nichts entschieden.“
    „Ich bin sicher, das Buch läuft gut. Übrigens war da eine junge Frau, hellblau angezogen, die ist mittendrin gegangen, ist dir das aufgefallen? Vielleicht war die ja von der Presse und musste noch zu einer anderen Veranstaltung?“
    „Keine Ahnung.“
    „Aber sie ist dir aufgefallen?“
    „Flüchtig.“
    „Und, hast du sie gekannt?“
    „Nein. Die hat dir wohl gefallen?“
    Irgendwie klang das weniger nach Frage als nach Vorwurf.
    „Sie ist mir einfach nur aufgefallen.“
    Ellens Laune in letzter Zeit gefiel ihm gar nicht. Hoffentlich legte sich das wieder bis zur Alaska-Reise. Dass irgendwas dazwischen kommen und diese Reise verhindern könnte, daran dachte er nicht im Mindesten. Er sah sich schon an jener Abzweigung nördlich von Whitehorse ins Auto steigen und endlich dorthin starten, wo die Natur wirklich noch wild und rau war.
     
    Seine Hochstimmung und freudige Erwartung herrlichster Zeiten hielt sich bis Montagnachmittag – bis Andreas Crähenberger leibhaftig an seinem Küchentisch-Schreibtisch erschien.
    „Würden Sie bitte gleich mal in mein Büro kommen?!“, verlangte er mit eisigem Gesicht.
    Lothar Sahm stand auf und folgte ihm. Stumm beobachteten die Kollegen Wonschack, Berthold und Schuster die Szene. Er kam sich vor wie ein Delinquent, der unter den Blicken eines erschütterten Publikums zum Schafott geführt wurde. Zufällig kam gerade Liane Czibull aus ihrem Büro, man merke ihrem überraschten Gesicht an, dass auch sie nicht wusste, was hier vorging, und man merkte Crähenberger

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