Köhler, Manfred
Alaska-Reise. Natürlich studierte er alle Bücher, die er finden konnte, und paukte englische Vokabeln. Er übte sich in Landschaftsbeschreibungen und im Erfassen der besonderen Stimmung jeder Jahreszeit, vor allem der Übergänge zwischen den Jahreszeiten. Er wollte ein Land erfühlen lernen, um seinen Texten für den nächsten Reiseführer mehr Tiefe geben zu können.
In den Jahren davor hatte Lothar Sahm zwischen Jahreszeiten mit und solchen ohne Laub an den Bäumen unterschieden; in jenem Herbst nun, jenem Winter und Frühling fielen ihm dank seiner Beobachtungsübungen kleine und kleinste Veränderungen in der Natur auf, es gab so viel zu entdecken. Fast bedauerte er es, als sich eine fünfwöchige Lücke in seinem Protokoll auftat, das ihm längst Selbstzweck geworden war und das er über Jahre hinweg fortzuführen entschlossen war. Alaska stand bevor.
Obwohl ihm seine Seite 2 ans Herz gewachsen war, hatte sich in den Monaten privater Schreibübungen seine Sehnsucht nach einem freien Schriftstellerleben verstärkt. So wenig ihn in den zurückliegenden Monaten die Hierarchie, in der er beruflich steckte, wirklich eingeengt hatte, so intensiv fühlte er sich doch in ihr gefangen, seine Sensibilität gegenüber Zwängen hatte sich zur Überempfindlichkeit gesteigert. Ellens Reisedetailpläne, die meist als Vorgaben für ihn daherkamen, wurden ihm bald zu viel, mochten sie auch noch so sinnvoll klingen. Das Kanada-Buch war gefloppt, nur knapp 700 von 2.000 Exemplaren waren verkauft worden. Ellen schob es auf seine Texte.
„Ich habe dir doch gesagt, vertiefe das, was die Leute auf den Bildern sehen, liefere die Hintergrundinformation dazu.“
„Den Leser möchte ich kennenlernen, der sich für Hintergrundinformationen über halb verfallene Scheunen und Unkraut am Straßenrand interessiert!“
Es stand nicht zum Besten zwischen den beiden bei Anbruch der zweiten Reise; dabei hatte sich ein wesentlicher Streitpunkt gerade erst angekündigt: Sarah. Er hatte ihr, seit er auf ihre Einladung hin für November Urlaub genommen hatte, drei Mails geschrieben. Erst auf die dritte Nachricht hin erhielt er eine Reaktion, Sarah tat darin überrascht: Das sei ihr zu kurzfristig, schrieb sie zurück – in einer Distanziertheit kam die Antwort, als habe er sich selbst eingeladen; schade, schrieb sie, vielleicht klappe es ja im nächsten Sommer.
Zu kurzfristig! Es gelang ihm, sich in Gedanken von ihr zu lösen. Seinen November-Urlaub nutzte er, um endlich sein Haus von außen herzurichten. Er mietete sich eine Arbeitsbühne und Werkzeug, entfernte die grünlich-grauen Eternitplatten samt Holzverstrebungen, verputzte die Fassade neu und strich das Haus in einem freundlichen Gelbton. Neben der Haustür pflanzte er links und rechts ein paar Sträucher wilden Wein und spannte Schnüre als Kletterranken. Die Arbeit an seinem Haus erfüllte ihn mit ungeahnter Befriedung, er war stolz, sie ganz allein bestritten zu haben, noch nie hatte er so intensiv gefühlt, was es hieß, mit eigenen Händen etwas von Dauer zu schaffen. Sein äußerlich nun sehr einladendes Anwesen trug dazu bei, dass er sich eine Weile rundum wohl fühlte in dem Leben, das ihm zu führen endgültig aufgetragen schien.
Selbst in der Adventszeit kein Gedanke an Sarah. Dann aber rief sie an, zwei Tage vor Weihnachten, um ihm ein schönes Fest zu wünschen. Er war gerührt. Ihre Stimme zu hören machte alle Trauerarbeit zunichte und brachte ihm das wohlig-verfluchte Rumoren im Bauch zurück, das er vergessen zu haben gehofft hatte; sie stand plötzlich neben ihm, es war, als flüstere sie ihm ins Ohr, er meinte sie riechen zu können. Ihr Kopf an seiner Schulter. Ihre Augen damals beim Abschied in seinem Auto nach der München-Fahrt, ein Abschied bis in ein paar Tagen. Es war bis heute nicht der endgültige Abschied für ihn. Ihr grußloses Verschwinden hatte er vergessen, aber nicht ihre Augen, die Art, wie sie ihn einen langen Moment angeschaut hatte vor dem Aussteigen bei dieser letzten Begegnung. Ihm schien dieser Moment wie ein Anfang, und ihr Anruf jetzt, ein Jahr später, wie eine Erneuerung dieses Anfangs. Was dazwischen gewesen war, dieses eine Jahr der Trennung und Enttäuschung, spielte keine Rolle. Er wollte nicht wissen, warum sie ihn erst eingeladen, aber seine Zusage ignoriert und schließlich ausgeschlagen hatte – auch sie würde nie erfahren, dass er in Seattle gewesen war und sie hatte besuchen wollen und dann doch nicht besucht hatte und
Weitere Kostenlose Bücher