Köhler, Manfred
warum nicht. Der Kontakt lebte wieder auf, intensiver denn je. Im Frühjahr schrieb er ihr erstmals von der Alaska-Reise, und sie schrieb zurück: „Den Norden zu besuchen, ist für mich schon immer ein Traum gewesen. Ich könnte im Juni Urlaub bekommen und hochfliegen, wir könnten ein paar Tage lang gemeinsam unterwegs sein. Wäre das nicht schön?“
Er dachte gar nicht daran, Ellen zu fragen, ob sie das auch schön fände. Er war wie elektrisiert und schickte Sarah sofort die Reiseplanung, die bereits auf den Tag genau feststand. Schon zwei Wochen später kam ihre Antwort. Für Sarah war das Rekord. Er schloss daraus, dass sie es diesmal ernst meinte. Sie hatte sich dafür entschieden, in der zweiten Woche des Aufenthaltes der beiden Wallfelder dazuzustoßen, und zwar in Anchorage. Sie würde von dieser größten Stadt Alaskas aus mitfahren Richtung Norden, gemeinsam mit Ellen und ihm den Denali Nationalpark besuchen und hoffentlich den Eisriesen Mount McKinley, den höchsten Berg Nordamerikas, in der Sonne glitzern sehen. Dann weiter nach Fairbanks, dort lag das Weihnachtswunderland „North Pole“, für amerikanische Kinder die Heimat von Santa Claus, für Sarah der Höhepunkt der Reise. Von Fairbanks aus wollte sie zurück nach Seattle fliegen.
Lothar Sahm quälte sich sehr mit der Frage, ob er Ellen von dieser Entwicklung berichten sollte. Was würde die Folge sein? Ein gigantischer Krach, und nicht nur das: Er traute es Ellen zu, dass sie sich von Rosa Guttler die Telefonnummer Sarahs besorgte, sie anrief und ihr über seinen Kopf hinweg absagte. Dann lieber ihren Wutausbruch vor Ort erdulden. Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht dabei, schließlich würde Sarah nicht stören, der Reiseverlauf würde durch sie nicht beeinträchtigt werden, sie würde einfach nur dabei sein.
Sein Mut schwand, je länger er es hinausschob. Auf der Fahrt nach Frankfurt, spätestens aber im Wartesaal des Flughafens hatte er Ellen von seinem Überraschungsgast unterrichten wollen. Zum Glück schlief sie, blond, kariert und schnarchend, fast die ganze Zeit. Im Flugzeug kam ihm ständig was dazwischen: die Sicherheitsbelehrung vor dem Start, der Begrüßungsdrink, die erste Mahlzeit an Bord, dann wollte Ellen den Film sehen, dann lesen, dann schlief sie wieder.
Zwei Stunden vor der Landung in Anchorage, endlich, überwand er sich.
„Ach, übrigens, das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt: Erinnerst du dich an die Nichte von Rosa Guttler, die damals bei ihr zu Besuch war, als du bei der Hochzeitsmesse fotografiert hast?“
„War das so eine kleine Verlebte?“
„Nein. Du weißt schon noch, Sarah, die Amerikanerin, jung, hübsch, dunkle Locken, war meistens hinten im Bügelzimmer...“
„Ja, und sie ist viel jünger als sie ausschaut, die habe ich schon gemeint. Was ist mit der?“
„Also, na ja, die ist zufällig nächste Woche auch in Alaska.“
„Du hast wohl noch Kontakt zur Frau Guttler?“
„Nein, wieso?“
„Weil du die Urlaubsplanung ihrer Nichte kennst.“
„Das weiß ich von ihr selbst, sie schreibt mir gelegentlich. Jedenfalls, stell dir vor, sie landet nächste Woche in Anchorage. Da sind wir ja zufällig auch gerade wieder dort nach dem Abstecher in den Süden. Sie will zufällig auch Richtung Fairbanks.“
„Na, solche Zufälle aber auch! Da soll sie doch mit uns kommen. Unser Van ist ja diesmal größer, die bringen wir schon unter.“
Er starrte sie an. Er war gar nicht dazu gekommen, zu fragen. An diesem Punkt seiner Offenbarung hatte er Widerstand erwartet, der sich an seinem Beharren aufheizen und zum Streit führen würde. Aber Ellen saß neben ihm, schaute ihm freundlich ins Gesicht und bekräftigte:
„Es wäre doch blöd, wenn wir getrennt fahren. Oder meinst du, sie will nicht mit uns?“
„Doch, bestimmt, ich meine, ich wollte dich dasselbe fragen.“
„Na bestens.“
Er konnte es nicht fassen. Diese Frau war immer wieder für eine Überraschung gut, im Angenehmen, wie jetzt, da er Unangenehmes erwartet hatte angesichts des verhärteten Umgangstons der letzten Wochen – wie auch im Unangenehmen, gerade dann, wenn man nicht mit Ärger rechnete.
So wie letzten Herbst. Seit der Veröffentlichung des Reiseführers, in der ersten Euphorie recht ordentlicher Verkaufszahlen im Vorweihnachtsgeschäft, waren die beiden sich menschlich wieder näher gekommen. Er hatte abgeblockt – bis er die November-Abfuhr von Sarah bekam. Was für ein abwegiger Wunschtraum war das gewesen
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