Köhler, Manfred
Er sah sich sogar bestätigt, hatte sie doch durch seine klaren Worte Gelegenheit gehabt, sich mit ihren Absichten zu erkennen zu geben. Seine Theorie war schon grundsätzlich richtig, es war ihm nur nicht möglich gewesen, das zu sagen, was sie erwartete und was eigentlich auch seine Meinung war: dass natürlich auch zu einer offenen Beziehung Gefühle gehörten. Die hatte er, bezogen auf Ellen, in seiner Euphorie über die scheinbar perfekte Partnerschaft wohl überschätzt. Gut, dass sich durch das richtige Maß an Offenheit damals alles so weit geklärt hatte, dass jetzt in Alaska diese gemeinsame Woche zu dritt möglich wurde.
Kapitel 10: Alaska
Aber, seltsam – so richtig wohl und am Ziel fühlte er sich nach der Landung nicht. Alles war so ganz anders, als er es erwartet hatte. Sollte Anchorage nicht eine Art Weltstadt in der Wildnis sein? Schon der Flughafen jedoch stieß ihn ab mit der Enge und Muffigkeit eines DDR-Provinzbahnhofes. An diesem Eindruck konnte auch der gewaltige ausgestopfte Bär im Abfertigungsgebäude nichts ändern.
Und dann erst die Innenstadt! Öde, ausgestorbene Straßenzüge und Schmuddelwetter, so sah sich Lothar Sahm vom Land seiner Träume empfangen. Diesmal würde er Sarah treffen, aber absurderweise sehnte er sich nach der ersten Reise zurück, die in vielem doch so enttäuschend gewesen war. Das alles: vergessen. Stattdessen: Erinnerung an Sonnenschein, Wolkenkratzer, das Gefühl mittendrin zu sein in Amerika. Das hier, Alaska, Anchorage, mochte morgen vielleicht auch die Sonne hervorkommen, schien ihm dagegen wie Verbannung, ein Ort zum Davonlaufen.
„Hast du dir das so vorgestellt?“, fragte er Ellen, als sie auf der Suche nach dem Hotel durch breite Straßen mit niedrigen Häusern fuhren.
„Ich war hier noch nie, keine Ahnung. Aber so ein verdammtes Mistwetter hab ich mir natürlich nicht vorgestellt.“
Sie zog ihr Schwarzewolkengesicht. In Wallfeld hatte er diesen Ausdruck von hilfloser Empörung und überbetonter Wut nie in ihren Zügen gelesen. Erst das brachte ihm so richtig zu Bewusstsein, dass sie wieder unterwegs waren. Die zweite Reise, Alaska, vor einem Jahr nichts als ein Wunschtraum, nun war sie Wirklichkeit. Ihm war, als sei er direkt vom Ende der ersten Reise hierher in die zweite versetzt worden. Das Jahr dazwischen, hatte das stattgefunden? Neben Ellen auf dem Beifahrersitz in einer fremden Stadt nach dem richtigen Weg zu spähen, kam ihm vor, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Sie duftete so nach unterwegs! Natürlich roch sie nicht anders als daheim, nach Zitronen-Duschmittel und irgendeinem Supermarkt-Deo, und doch war ihm durch ihren Geruch Kanada näher als Wallfeld, obwohl ja das Bild von ihr am Steuer der ungewohntere Eindruck war.
Das Gefühl von Déjà-vu blieb beim Einchecken im Hotel und verstärkte sich noch, als sie ihr Zimmer bezogen. Ellen hatte nichts anderes im Kopf als ihre Kameras auszupacken, und er hatte durch den Anblick ihres Gewusels das Gefühl, nun ein Taxi nehmen und nach Sarah suchen zu müssen.
„Ich schaue mich noch ein bisschen um, während du auspackst.“
Sie brummte ihre Zustimmung. Aber es gab nicht viel zu sehen. Niemand im Hotelfoyer, nicht mal ein Portier; niemand auf der Straße; niemand, den er kannte in dieser Stadt, und nichts in Sichtweite, was einen Spaziergang durch den Nieselregen wert gewesen wäre. Also ging er zurück aufs Zimmer und zappte sich durch die amerikanischen Programme, so wie er es in Kanada jeden Morgen und jeden Abend gemacht hatte, stets zu Ellens Verdruss. Nur beim Thema Wetter wurde sie hellhörig.
„Lass mal!“
Auf der Wetterkarte Wolken und Regentropfen über Anchorage für die nächsten Tage; aber Sonne zwischen hier und Fairbanks. Ellens Laune besserte sich schlagartig.
„Alles klar.“
„Was denn?“
„Hast du nicht gesehen? Sonne über dem Denali, der Mount McKinley ohne Wolken, das ist ganz selten. Am besten, ich stelle den Wecker auf vier Uhr. Oder noch besser auf drei...“
„Willst du da morgen etwa hoch? Aber das geht doch nicht!“
„Wieso nicht? Das ist die Chance!“
„Aber Denali ist erst nächste Woche dran. Wir wollten doch morgen runter in den Süden...“
Ellen schaute ihn an. Ihr Blick sagte: Du machst wohl Scherze!
„Aber ist ja egal, Hauptsache wir sind nächste Woche wieder zurück in Anchorage.“
„Darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen.“
„So war es aber doch geplant. Und Sarah hat sich so
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