Köhler, Manfred
Mittäter bei ihrem Raubbau am eigenen Körper. Dann tat sie ihm leid. Wenn der Wecker wie gewohnt um 5.30 Uhr loslegte, setzte sie Morgen für Morgen zu ihrem Sprung aus dem Bett an, besann sich aber, dass dies nun nicht mehr ging, und tastete nach ihrer Krücke. Er litt unter der Vorahnung, dass ihr kühner Sprung ihr nie mehr möglich sein würde. Sie machte ihre Atemübungen, zählte ihre Kameras, humpelte auf ihrer Krücke ins Bad, der Wecker summte dazu, bis Lothar Sahm die Energie aufbrachte, ihn zum Schweigen zu bringen. Gehandicapt, aber unverwüstlich, so quälte Ellen sich durch den Tag. Auch abends gab sie keine Ruhe, sie lag mit ihrem bandagierten Fuß auf dem Bett, starrte an die Decke und versuchte mit verbissenem Gesicht, ihr Gelenk zu bewegen. Sogar Auftreten übte sie, ganz vorsichtig und einige Zeit vergebens. Sie tat ihm leid.
Dann bewunderte er sie. Sie war verrückt, sich das anzutun, aber was für ein enormer Wille wohnte in diesem kleinen, drahtigen Körper! Ihre absolute Fixiertheit auf ihr Ziel steckte ihn an, riss ihn mit, ließ auch ihn über sich selbst hinauswachsen. Ihre Verletzung wurde für ihn zum beherrschenden und stimmungsgebenden Vorfall der Reise. Bewusst wurde ihm das, als sie nach rund zwei Wochen in Whitehorse ankamen, an der Stelle, an der er ein Jahr zuvor so sehnsüchtig den Autos hinterhergeschaut hatte, die Richtung Fairbanks oder Dawson City unterwegs gewesen waren. Nun waren sie selbst von Fairbanks gekommen, hatten den Alaska Highway damit vollständig bereist und würden Richtung Dawson City weiterfahren. Lothar Sahm, da sein Traum vom Norden sich erfüllte, versuchte sich die Stimmung zu vergegenwärtigen, die ihn ein Jahr zuvor durchdrungen hatte. Er fand sie nicht mehr. Die Reise damals hatte für ihn in der Erinnerung eine ganz bestimmte Gefühlsqualität, die sich zusammensetzte aus seiner Sehnsucht nach Sarah, nach Alaska, aus der Neuordnung seines Bewusstseinsinhaltes durch die vielen ungewohnten Eindrücke, durch seine Verwirrung Ellen betreffend, durch seine berufliche Situation, die objektiv schlechter war als jetzt, ihm aus gegenwärtiger Sicht aber heller und freundlicher schien. Seine Hoffnung auf baldigen Ausbruch, wie groß war sie damals gewesen – und wie wenig war daraus geworden. Noch immer dümpelte seine Romanidee dahin. Eigentlich wollte er das Buch längst geschrieben haben. Dafür hatte er ein anderes geschrieben, das damals noch gar nicht zu ahnen war.
Wie er es auch drehte, er kam zu dem Schluss, dass er sich wohl fühlte in der Gegenwart, dass ihm die erste Reise aber so verklärt ins Gedächtnis trat, dass die jetzige weit dagegen abfiel. Sie hatte keine eigene Qualität, war wie ein Abklatsch. Und endlich kam er darauf, warum das so war: Die erste Reise war abgeschlossen, sie war dokumentiert und damit fassbar, sie war eingebettet in einen überschaubaren Zeitrahmen. Die zweite Reise aber hing in der Luft, konnte in ein zweites Buch münden oder nicht, das zweite Buch konnte erfolgreich werden oder nicht, ein möglicher Erfolg konnte ihn in ein freies Leben katapultieren oder nicht, Ellen konnte wieder gesund werden oder nicht, man würde die Partnerschaft fortsetzen oder nicht, alles war möglich, und damit zeigte die Gegenwart kein Gesicht. Mit diesem Gedanken kam ihm die entscheidende Einsicht zur Umsetzung seines Romans.
Auf dem Highway von Whitehorse nach Dawson City gab es kaum Abwechslung, er hatte Zeit zu brüten, alles trat so klar hervor, und er verfluchte Ellens Bänderriss aus reinem Eigennutz: Wäre ihr Fuß nicht verletzt, dann würde sie am Steuer sitzen und er hätte die Hände frei für eine Stoffsammlung ausgehend von der eben gehabten Idee.
Erst am Abend sollte er Gelegenheit dazu bekommen. Eigentlich hatte Dawson City Ziel der Tagesetappe sein sollen, aber der Highway zog sich endlos dahin, sie passierten die drei einzigen Ortschaften entlang der über 600 Kilometer langen Strecke, entschlossen auf ihr Ziel ausgerichtet, und kehrten dann um 21 Uhr doch noch ein, als sich mit der Moose Creek Lodge eine letzte Gelegenheit auftat. Ellen hätte ihn wohl weitergehetzt, hätte sie vor der Rastanlage nicht ein witziges Fotomotiv entdeckt: zwei über einen Meter große, aus Holz geschnitzte Moskitos, die mit blutrot bemalter Stachelspitze und grimmig-gierigem Blick das Haupthaus bewachten. Während sie knipste, checkte er ein, entlud den Van, und da sie immer noch auf ihrer Krücke um die Moskitos herumhumpelte, schloss
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