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Köhler, Manfred

Köhler, Manfred

Titel: Köhler, Manfred Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irrtümlich sesshaft
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diese Ausdehnung seines Bewusstseins nicht würde halten können, er wollte aber so viel wie nur möglich von draußen in die Enge seiner selbst mitnehmen, sobald er würde zurückkehren müssen, es mitnehmen, um die eigenen Grenzen neu abstecken zu können, mit Worten, und zwar sofort, er wusste, dass ihm das gelingen konnte, und er wusste in dem Moment, in dem er abgelenkt wurde, dass die Gelegenheit damit für dieses Leben vertan war. Ellen rief nach ihm. Sie schrie seinen Namen.
    Ellen!
    Nicht neben dem Gletscher oder allenfalls an seinem Rand, so wie er selbst, sondern auf dem Gletscher war sie, freilich doch, weniger als ganz droben oder ganz drin war ihres Begnügens nicht. Er vernahm ihren Notruf als Ablenkung, als Störung seiner Vision, er hatte rasende Angst um sie. Das Erdbeben verstummte, sein Stand war wieder sicher, er lief los.
    Auf den blauhellen Massen des Gletscherrückens war sie in ihrer rotgrün karierten Jacke leicht ausgemacht. Sie hockte auf dem Eis, ihre Kamera samt Stativ lag ihr quer über den Schoß, das rechte Bein steckte leicht verdreht bis zum Knie in einer engen Gletscherspalte. Aber sie war wohlauf, und so entlud sich sein Erschrecken in einem Anfall zorniger Flüche.
    „Himmelherrgott noch mal! Habe ich dir nicht gesagt, dass hier schon Leute umgekommen sind!? Zehn Minuten in einer Gletscherspalte, und du bist erfroren, falls du nicht schon beim Absturz zerschmettert wirst.“
    Er zerrte an ihrem Bein. Sie brüllte ihm ihren Schmerz ins Ohr. Er zog seine Jacke aus und schob sie ihr unters Gesäß. Weit und breit kein Mensch.
    „Ich war doch vorsichtig“, verteidigte sie sich mit kleinmädchenhafter Trotzstimme. „Wer rechnet denn am helllichten Tag mit einem Erdbeben?“
    Er besah sich den eingeklemmten Fuß genauer. Zerquetscht war nichts, allzu fest konnte er nicht stecken. Er öffnete die Schnürsenkel ihres Wanderstiefels und zog noch einmal, diesmal behutsamer, an ihrem Bein. Der Fuß glitt aus dem Schuh, Ellen stöhnte einen unterdrückten Schrei heraus. Der Schuh löste sich und wollte in die Spalte fallen, Lothar Sahm erwischte ihn gerade noch. Er rollte ihr den Strumpf vom Fuß und besah sich ihren Knöchel, der schon begann, seine Konturen zu verlieren. Ellen versuchte den Fuß zu bewegen. Er half ein bisschen nach, sie schrie auf und zog ihm ihr Bein aus den Händen.
    „Wahrscheinlich nur verknackst“, behauptete sie gepresst.
    „Zum Glück gibt es hier genug Eis“, stellte er fest und griff nach ihrem Stativ. Sie krallte sich daran fest.
    „Was soll das?“
    „Ich will Eis abkratzen, für deinen Knöchel.“
    „Von mir aus. Aber bestimmt nicht mit meinem Stativ!“
    „Womit denn sonst? Mit den Fingernägeln geht nicht, das Zeug ist hart wie Glas.“
    „Dann muss es eben ohne Eis heilen. Gib mir meine Socke.“
    Er half ihr beim Anziehen. Die Socke ging noch – der Schuh aber war inzwischen zu klein. Er musste sie samt ihrer Ausrüstung auf die Beine wuchten. Das Stativ als Krücke zu nehmen, lehnte sie ab. Schon nach ein paar gemeinsamen Metern übers Eis balancierend, ihren Schuh an den Schnürsenkeln um den Hals baumelnd, kam er beträchtlich ins Keuchen.
    „Wir müssen ... schleunigst zum ... nächsten Arzt.“
    „Kommt nicht in die Tüte. Du machst mir heute Abend kalte Umschläge, dann bin ich morgen wieder fit.“
    Er hatte nicht den Atem zu diskutieren. Nur mit Mühe schaffte er es, sie an Spalten vorbei und über steil abfallende Schlitterbahnen hinweg vom Gletscher zu transportieren. Fast noch schlimmer war der Weg durch das Geröll der Moräne. Er war nahe daran, nicht alles auf einmal, sondern zunächst ihre Ausrüstung und dann erst sie selbst zum Auto zu bringen, umgekehrt hätte sie es nicht mitgemacht, aber sie mit ihrem nassen Hosenboden auf die kalten Steine zu setzen, erschien wiederum ihm undenkbar, selbst dann, wenn er seine Jacke untergelegt hätte. Er war am Zusammenbrechen, als er sie endlich im Auto hatte.
    „Was machst du denn jetzt?“, wollte sie wissen, als er anfing, hastig in einem der regionalen Werbeprospekte zu blättern, die er unterwegs eingesammelt hatte.
    „Na, was wohl? Ich schaue nach, wo der nächste Arzt ist.“
    „Wie oft denn noch: Ich will keinen Arzt!“
    „Es ist mir egal, was du willst, dein Knöchel sieht schlimm aus, da muss was gemacht werden. Ich kann dich doch nicht den restlichen Urlaub herumtragen samt deiner Kameras!“
    „Ich gehe aber zu keinem Arzt! Und wir sind hier nicht auf

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