Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Köhler, Manfred

Köhler, Manfred

Titel: Köhler, Manfred Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irrtümlich sesshaft
Vom Netzwerk:
man denn mehr geben als sein Bestes? Sollte sie doch ihren Stiefel runterknipsen! Er wollte, was ihn selbst betraf, das Mögliche so gut wie möglich machen: Das wurde sein Leitspruch für den Rest der Reise.
    Natürlich fiel dennoch so manches unter den Tisch, das möglich und lohnend gewesen wäre, sich aber nicht mit den Interessen des Textautors deckte: die Schilderung des tristen Alltags vieler Ureinwohner, ihre Hoffnungslosigkeit und ihr Trotz; das Leben in den Städten während der acht Monate Winter bei 40 Grad Kälte und 20 Stunden langen Nächten; die Härten des Pipeline- oder Straßenbaus in diesem mit Urgewalt sich der Zivilisierung entgegenstemmenden Land – Geschichten über Baumaßnahmen der jüngeren Vergangenheit waren, meinte Lothar Sahm, bei Weitem nicht so berichtenswert wie die in den 40er Jahren in Zusammenhang mit dem Mythos Alaska Highway. Nur widerwillig sammelte er Daten über ein Wiederaufforstungskommando aus Studenten, die in ihren Semesterferien unter menschenunwürdigen Bedingungen Zehntausende von Bäumchen pflanzten. Was für ein Aufwand, fand er, der Wald wäre doch wohl auch von selbst nachgewachsen! Ellen war begeistert von diesen selbsternannten Urwaldrettern. Er unterließ es, seine Vermutung zu äußern, dass es hier nur um prophylaktische Gewissensberuhigung ging: die Hip-Hop-Generation noch einmal auf der Suche nach einem Kick mit Sinn, bevor sie sich nach dem Studium in die Riemen einer Kultur werfen würde, die dem Wald an anderer Stelle noch größere Wunden zufügte. Aussteiger auf Zeit waren nicht sein Thema. Ihn faszinierten Menschen, die mit allen Zwängen gebrochen hatten, die ihren Hierarchien und den austauschbaren Rollen darin entkommen und eins geworden waren mit sich selbst.
    In den besten Momenten der Reise gelang es Lothar Sahm, so zu empfinden, als sei auch er am Ziel. Er ließ sich von der Natur durchdringen, von ihrer Kraft durchströmen und versuchte sich in der Kunst zu üben, in den knappsten Worten einzufangen, wie Wald, Weite und Berge über alle Sinne zu ihm kamen. Anfangs rechnete er bei derlei schwärmerischen Übungen noch mit mystischen Erlebnissen, erhoffte sich die Gnade, seiner eigenen körperlichen Begrenztheit entfliehen und sich in der Natur verbreiten zu können wie ein Wassertropfen im Meer. Das Wunder ergriff ihn, als er schon nicht mehr damit rechnete. Fakten sammelnd streifte er durch die Eis-Zauberwelt eines Gletschers, als es passierte; er versuchte, das Tausenderlei nie gehörter Geräusche zu beschreiben – wie Wasser in Rinnsalen, Bächen oder Flüssen tönte, hatte nichts zu tun mit dem hohlen Rieseln und Murmeln, diesem hallenden Tröpfeln und Plätschern, mit dem es unter den steinharten Eismassen des Gletschers hervortrat. Noch unaussprechlicher waren die Stimmen des Eises, sein Quietschen und Schaben, sein Krächzen und Ächzen, sein Stöhnen und sein krötenhaftes Knarren. Wie unerträglich und faszinierend die Sonne hier millionenfach gleißend blendete! Wie sauber geschieden die Winde durch das kristallene Labyrinth strichen, man spürte sie lauwarm im Gesicht und zugleich eisig an den Händen. Wie unbegreiflich die Vielfalt an Bewegungen dieses scheinbar starr ruhenden Kolosses: seine Eigenbewegung talwärts, die mit menschlichen Sinnen nicht zu verfolgen war, die Bewegungen auf ihm und in ihm und um ihn, die sich ausdrückten in Eisbrocken aller Größe, die unvermittelt abbrachen oder abrutschen oder in sich zusammenfielen, im Prasseln freibrechender Kieseinschlüsse, in den Bahnen des Schmelzwassers, im saugenden Schnappen, mit dem sich Gletscherspalten auftaten. Lothar Sahm war ganz Gletscher und damit ruhend in Bewegung sich auf festem Grund wähnend, als die Welle eines Erdbebens unter den Eismassen hindurchlief, sie erschütterte und in sich neu ordnete. Das war nun eine neue Dimension des Erlebens, die ihn für Sekunden seiner Beschränktheit enthob, gerade indem sie ihm, dem belanglosen Stäubchen, das Fürchten lehrte. Angst und Ehrfurcht, Hilflosigkeit und Verbundenheit mit der Allmacht der Natur erfüllten ihn. Das leichte Wanken des Gletschers unter seinen Füßen war alles, was er objektiv spüren konnte, und doch erfasste er ganz intensiv, dass auch die Berge ringsum in diesem Augenblick in Bewegung waren, das weitläufige Land, Ortschaften jenseits des Horizontes, alles durch die Welle des Bebens vereint. In diesem Augenblick, in dem er mehr Welt sein durfte als er es sonst war, wusste er genau, dass er

Weitere Kostenlose Bücher