Köhler, Manfred
dem Brunnen in der Empfangshalle der Werkszentrale; aber der Artikel strotzte vor Floskeln: ...dankte ihm für 40 Jahre treue Dienste; ...wird schwer zu ersetzen sein; ...hat sich für den wohlverdienten Ruhestand viel vorgenommen. In der zweiten Woche fand sich bereits keine einzige lesenswerte Reportage mehr auf der Seite, aber immerhin waren die üblichen Ehrungen, Veranstaltungs-Nachbesprechungen oder Jahreshauptversammlungs-Protokolle noch etwas peppiger aufbereitet; schon in der dritten Woche seiner Abwesenheit war die Seite 2 nicht mehr von den Seiten 3 bis 5 zu unterscheiden.
Er öffnete den ersten Brief. Der 15jährige Florian schrieb, ihm hätten an der Seite 2 immer die Interviews mit Stars im Vorfeld ihrer Auftritte in der Wallfelder Stadthalle gefallen, auch die mit ätzenden Typen wie Volksmusikern, weil selbst solche Leute irgendwie witzig sein könnten, wenn man ihnen die richtigen Fragen stelle. Warum nur habe man diese Serie eingestellt? Lothar Sahm wusste schon warum: Weil es verdammt mühsam war, den Managern dieser Stars hinterher zu telefonieren und sie so lange zu beknien, bis sie endlich bereit waren, auch einem Lokalzeitungsschreiberling mal einen Interviewtermin einzuräumen. Und weil es viel Zeit kostete, sich über diese Stars so gründlich zu informieren, dass man ihnen Fragen stellen konnte, die ihnen nicht schon tausend Mal in Illustrierten-Interviews vorgesetzt worden waren. Er schrieb dem Florian einen kurzen Brief, in dem er ihm versicherte, die Serie sei keineswegs eingestellt, schon nächste Woche werde es mit einem bekannten Rapper weitergehen: Wer das ist, werde noch nicht verraten.
Der zweite Brief, den er öffnete, stammte von einer Magda Seiferth, Rentnerin, wohnhaft im städtischen Altersheim, die immer so gern die Lebensgeschichten prominenter Wallfelder gelesen hatte. Er konnte seinen Stellvertretern nicht böse sein, dass auch diese Artikel-Reihe zu kurz gekommen war, denn auch die hatte ihn immer einen erheblichen Mehraufwand an Zeit und Nerven gekostet. Die Wallfelder, die er darin porträtierte, waren solche, die so weit über allem standen und so zurückgezogen lebten, dass man in der Regel gar nicht an sie herankam. Man brauchte Fingerspitzengefühl, diese Leute, die wirklich etwas zu erzählen hatten, zunächst zu einem Interview zu überreden, ihnen dann interessante und bislang unbekannte Details ihres Lebenslaufes zu entlocken, ihre Sehnsüchte, Widersprüche und Wunden, zuweilen sogar ihre Lebenslügen, und diese Fakten dann einerseits aufwühlend aber andererseits unspektakulär genug zu verarbeiten, dass die Betroffenen nicht beim Korrekturlesen des Artikels erschrocken alles zurücknahmen.
Im dritten Brief vermisste jemand das Rätsel, im vierten Brief wieder die Star-Interviews, im fünften die Rubrik „Globetrotter“, die auch nicht gerade einfach am Leben zu erhalten war, denn die Wallfelder konnte man zählen, deren Urlaub anders verlief als Strand, Saufen, Disco – und die bereit waren, nicht nur Details des Reiseverlaufs herunterzubeten, sondern auch über ihre innere Reise offen zu berichten. Lothar Sahm selbst wäre es, was die Reisen mit Ellen betraf, ganz sicher nicht gewesen.
Er antwortete allen und griff dann beherzt nach seiner Seite: Die Briefe hatten ihn angestachelt, die Qualität wieder und dann weiter zu steigern. Offenbar war es den Lesern doch nicht egal, was man ihnen vorsetzte, und offenbar wollten sie eben nicht das übliche Vereins-Einerlei kombiniert mit Schleichwerbung. Genau das aber sah die Themensammlung vor, die Walter ihm aufgrund von Voranmeldungen für die nächsten Tage zusammengestellt hatte: 30jähriges Bestehen der Apotheke am Marktplatz; Radsportclub Wallfeld 1972 e.V. wechselt Sponsor; Neueröffnung eines Fußpflegestudios am Stadtrand – so ging das über knapp zwei Dutzend Listeneinträge. Er präsentierte den Zettel seiner Chefin und holte sich ihr Einverständnis, sich gegen solche Termine zu verwahren, hatte zwar ein schlechtes Gewissen, den ganzen Mist nun Walter für seine Seiten 3 bis 5 aufzubürden, aber: Die Leser wollten das so. 39 Briefe waren ein deutlicher Beleg. Er hatte Fanpost bekommen für seine Seite 2! Das war, seit er Redakteur war, der erste erhebende Arbeitstag nach einem Urlaub gewesen.
Abends dann Ellen. Sie hatte an diesem Tag fünf Mal mit dem Verlag telefoniert. Es hatte mehrerer Anrufe bedurft, weil man sie zunächst nicht mit dem Verlagsleiter hatte verbinden wollen, was ein
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