Köhler, Manfred
riskieren, wenn man was erreichen will.“
Etwas riskieren – das war es: Sie riskierte ihre Unversehrtheit. Er hatte sie für leichtsinnig gehalten oder sinnlos verbohrt, aber das war sie wohl nur zum Teil. Sie wollte etwas haben und war bereit, dafür etwas anderes einzusetzen. Was aber konnte er riskieren als Einsatz für das Gelingen dieses Projektes? Unterwegs nichts, da hatte er fleißig und findig zu sein, das war alles; aber zu Hause durchaus seinen Job in den Wochen, in denen er alle Zeit brauchen würde, das gesammelte Material umzusetzen, die Texte zu schreiben und damit ein zweites Mal und diesmal absichtlich gegen seinen Vertrag zu verstoßen. Mit diesem Einsatz und ihrem noch viel größeren Risiko, verflucht noch mal, sollte es doch wohl gelingen, diesen Reiseführer nicht nur beim Verlag durchzusetzen, sondern diesmal auch bei den Lesern.
Am Ende der fünften Woche, zurück in Anchorage, das sich im Sonnenlicht als faszinierend bunte, belebte und vielfältige Großstadt erwies, hätte seine Bilanz gar nicht zufriedenstellender ausfallen können: Er fühlte sich so frei und kreativ und dynamisch wie nie in seinem Leben; er hatte endlich die richtige Ausgangsposition für seinen Roman; und für das Reiseführerprojekt hatte er sich keine Information entgehen lassen, hatte er nun eine optimale Arbeitsgrundlage – mehr war einfach nicht drin gewesen. Es musste etwas daraus werden.
Kapitel 11: Fanpost
Freilich war er durch wochenlanges Augenoffenhalten und Ohrenaufsperren durch und durch auf das Sammeln von Eindrücken programmiert, der Übergang zum Auswerten und gar zum Schreiben fiel ihm schwerer als erwartet. Und da war noch etwas, das seinen Vorwärtsdrang empfindlich störte, etwas, das er unterwegs abgelegt und vergessen hatte, das ihm mit seiner Persönlichkeit inzwischen unvereinbar schien: sein Job. Noch nie war der Impuls, alles hinzuschmeißen, so übermächtig wie an seinem ersten Vormittag zurück in der Wallfelder Rundschau, eigentlich war er fest entschlossen dazu; allerdings war ihm manches doch nicht so gleichgültig, wie er aus dem Abstand heraus gemeint hatte. Er freute sich zum Beispiel, Liane Czibull wiederzusehen, und es bewegte ihn, ihr anzumerken, dass auch sie ihn vermisst hatte. Sie überreichte ihm ein kleines Bündel von an ihn persönlich adressierten Briefen.
„Wahrscheinlich alles Beschwerden.“
„Über wen – über mich?“
„Na klar. Es haben auch schon etliche Leser angerufen, das ging ungefähr in der zweiten Woche nach Ihrer Abreise los.“
Er war verdutzt. Sie lächelte verschmitzt.
„Die Anrufer waren alle der Meinung, dass die Seite 2 plötzlich erheblich schlechter geworden sei. Ich habe die Leute natürlich beruhigt und ihnen gesagt, das sei nur vorübergehend, weil der dafür verantwortliche Redakteur im Urlaub sei, aber ich habe sie gebeten, doch dem Herrn Sahm mal zu schreiben, was ihnen bisher so sehr gefallen hat an dieser Seite und was daher beibehalten werden sollte. Das steht jetzt alles in diesen Briefen.“
Lothar Sahm drehte und betrachtete das Bündel und schien nicht recht zu begreifen.
„Das ist also so etwas wie Fanpost.“
„Aber wieso, was ist denn mit der 2 passiert?“
Sie schnaufte verächtlich durch die Nase.
„In den fünf Wochen hat sich die halbe Redaktion daran versucht. Am besten, Sie schauen sich es selbst mal an.“
Mit seinem Briefe-Bündel und einem Fünf-Wochen-Stapel Wallfelder Rundschau zog er sich an seinen Küchentisch-Schreibtisch zurück. Vom Tag seiner Abreise an bis zur Ausgabe dieses Tages studierte er die jeweilige Seite 2 – und war entsetzt: Er sah sich vor dem Trümmerhaufen seiner Arbeit stehen.
In den ersten Ausgaben war die Gestaltung noch in seinem Sinn: Mandy, die ihn ursprünglich für die kompletten fünf Wochen hatte vertreten sollen, hatte die Themenvorschläge abgearbeitet, die er ihr hinterlassen hatte, die Artikel waren gut geschrieben beziehungsweise redigiert, es gab nichts auszusetzen. Von Ausgabe zu Ausgabe aber hatten sich sehr bald Themen eingeschlichen, die auf dieser Seite nichts zu suchen hatten, zum Beispiel bereits in der vierten Ausgabe der ersten Woche seiner Abwesenheit die Verabschiedung eines Abteilungsleiters der Münner-Werke. Zwar hatte Mandy nicht das unvermeidliche Gruppenfoto mit Fresskorb und Händeschütteln gemacht, sondern ein recht gelungenes des frischgebackenen Ruheständlers zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden, die beiden hockten locker auf
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