Köhler, Manfred
gegenüber und drückte den Hinterkopf fest gegen das Leder der Lehne.
„Dann fragen Sie jetzt, wie Sie es für richtig halten!“
Und Lothar Sahm fragte. In den folgenden vier Stunden fragte er sich den Lebensverlauf zusammen, wie ihn sich der einstige Filmstar in seinen einsamen Jahren auf der Burg zurechtformuliert hatte, und zum großen Teil stimmte diese Inhaltsangabe wohl mit den Eckpunkten dieses Lebens überein, zumindest deutete sich zwischen den Zeilen keine andere Wahrheit an. Sarburger ging offener als manch bisheriger Interviewpartner mit dem um, was ihm an sich selbst und anderen nicht gefallen hatte und was er gerne verändert hätte aber nie verändern konnte – und er hielt das Erreichte und seine Wunschträume auseinander, ohne das eine geringzuschätzen oder das andere als böswillig vom Leben verweigert zu beklagen.
Dass er die Burg gekauft hatte, um einem Freund beizuspringen, traf offenbar zu; er blieb dabei, als er auch den anderen Teil der Vergangenheit zum Gesamtbild beisteuerte: dass er sich im Alter von 59 Jahren fast in den Tod gesoffen hätte, dass er nach drei Monaten in der Entzugsklinik schnurstracks in den Strudel zurückgerissen zu werden drohte, kaum hatte er sein Haus in Beverly Hills wieder bezogen. Lebensumfeld und Gewohnheiten seien untrennbar, das habe er zum Glück noch rechtzeitig erkannt: In dem US-Protzbau zu sitzen, ohne zu trinken, die alten Kollegen zu treffen, ohne mit ihnen anzustoßen, sei über seine Kräfte gegangen.
Die Möglichkeit, seinen Freund, den Burgherrn, zu retten, habe auch ihn gerettet, aber nicht wegen der Abgeschiedenheit und dem Gegensatz zum gewohnten Partyleben, nicht wegen der Mahnung dieser Mauern zu klösterlicher Einkehr. Er habe den Saal betreten, in dem man nun beisammensitze, karg und kahl sei er damals gewesen, kalt und abstoßend, aber er habe augenblicklich den Wunsch zu malen verspürt, genau hier und nur hier. Pinsel, Leinwand und Farben seien in der Entzugsklinik wesentlicher Teil der Therapie gewesen, er habe das mitgemacht als Pflicht, nicht als Neigung, und in seiner Hollywood-Villa schon nicht mehr daran gedacht. Hier aber, nun ja, er könne es auch nicht erklären...
Aber Lothar Sahm konnte, denn er hatte Gleiches erlebt in seinem Arbeitszimmer bezogen auf das Schreiben. Es gab Orte, so sah er sich nun bestätigt, die Wirkung auf Menschen ausübten, die eindrangen in die Seele, die Heimat waren vom ersten Augenblick an. Ein gewisses Nebeneinander und Miteinander vergangener Zeiten, wie er es in seinem eigenen Haus zu spüren meinte, auch hier flog es ihn an, und es drängte ihn, seinen Gesprächspartner nach dem Glück des Schaffens auszufragen, ob auch er es so erlebe, dass man es eigentlich nicht erlebte, weil man völlig in sich versank, aus Zeit und Raum austrat und ganz zu dem wurde, was man tat, und hinterher erst begriff, man war im Paradies, die Welt jenseits dieser Einheit zwischen Sein und Tun nun anders erlebte als all die Jahre gewohnt: als Ort, dem man entfliehen wollte, immer wieder zurück in die Selbstvergessenheit.
„Sehen Sie“, gab ihm Sarburger seine Antwort, die keine sein sollte, weil er nicht recht nachvollziehen konnte, was der junge Mensch ihm da vorschwärmte, „ich bin jetzt 73 Jahre alt und ganz objektiv alt, aber dieses lange Leben, das Sie mir anzusehen meinen, hat sich bewusst nicht abgespielt, ich bin im Gefühl ganz woanders und denke, meine besten Jahre liegen noch vor mir und ich will was Sinnvolles damit anfangen. Nicht, dass ich das Meiste bereue, was ich gemacht habe, aber ich habe oft den Moment verpasst, mich zu verändern, mich zu häuten, verstehen Sie, und daraus erwächst einem das Unglück, an diesem Beharren auf dem, was mal richtig war. Meine Schauspielerei, die war am Anfang das Beste, was ich mir und anderen geben konnte, aber das wäre sie auch gewesen, wenn ich nicht den Erfolg damit gehabt hätte. Das ist ja das Verrückte, die Millionen Menschen, die mich beneideten, dachten dabei an mein Geld, die tollen Partys und daran, dass mir alle Türen der Welt offenstanden. Keiner beneidete mich dafür, dass ich das machen konnte, was mir wichtig war, das schien allen nur Mittel zum Zweck zu sein. Umgekehrt würden mich die meisten Leute wohl dafür bedauern, dass ich auf meine alten Tage allein auf einer Burg eingekerkert bin und hässliche Bilder male. Aber ich verbringe meine Zeit genauso wie ich das will, Tag für Tag, und mir kann egal sein, was andere von mir und
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