Köhler, Manfred
meinen Bildern halten. Wenn Sie mich jetzt also nach meiner Bilanz fragen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Dein Leben ist kurz, viel kürzer als du dir einbildest. Halte dich deshalb nicht mit dem auf, was du meinst machen zu müssen, sondern fange endlich das an, was dich rundum zufrieden macht.“
„Nur kann das leider nicht jeder...“
Der lange Monolog hatte Lothar Sahm aus seiner Euphorie geweckt und ernüchtert. Das war ja nun keine Lebensbilanz, sondern eine Binsenweisheit aus der Traumwelt eines vom Leben Begünstigten, der sich jederzeit hatte aussuchen können, wie er seine Zeit verbringen wollte.
„...kann nicht jeder, da kommt mir doch die Galle hoch! Das reden sich die ein, die es sich nicht trauen. Jeder kann neu beginnen, jederzeit! Er muss nur zu dem stehen, was er will und was er nicht will. Was würden Sie denn am liebsten ändern? Haben Sie sich überhaupt schon mal Gedanken gemacht über die vielen Dinge, die Sie ändern können, oder jammern Sie lieber über das bisschen, was nicht zu ändern ist?“
„Ich hätte gern mehr Zeit zum Bücherschreiben.“
„Na also, warum nehmen Sie sich die Zeit denn nicht?“
„Sie meinen, warum gebe ich nicht meinen Job auf? Weil ich nicht auf der Straße landen und verhungern will.“
„Blödsinn, als ob in unserem Land jemand verhungert! Sie wollen bloß vom gewohnten Lebensstandard nicht runter. Meinen Sie, ich sei als Schauspieler vom ersten Tag an erfolgreich gewesen? Ich war jahrelang Komparse, habe für alle anderen Brotzeit geholt und nach der Vorstellung die Bühne gekehrt. Sie glauben gar nicht, wie niedere Arbeit auf dem Weg nach oben motiviert. Wie wollen Sie denn jemals hungrig genug sein, um über sich hinauszuwachsen, wenn es Ihnen doch eigentlich an nichts fehlt?“
„Das sagt sich so leicht. Manchmal hasse ich meinen Job, er kostet mich so viel, nicht nur Kraft und Gesundheit, man verkauft als Angestellter vor allem Lebenszeit und geistige Freiheit, aber dafür bringt mir der Beruf manchmal auch mehr als nur Geld. Heute zum Beispiel... ich hätte Sie doch nie kennengelernt, wäre ich nicht bei der Rundschau. Die Bücher, die ich bisher geschrieben habe, wollte keiner lesen, aber diese Seite 2, für die ich verantwortlich bin, auf die freuen sich viele Leute. Mir ging es immer darum, etwas zu machen, das einzigartig und von Dauer ist. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es das Bücherschreiben ist. Vielleicht gelingt mir in einigen Jahren ein gutes Buch, wenn ich dran bleibe, vielleicht kann ich durch ständiges Üben so weit kommen. Aber vielleicht wird auch nie was daraus, weil ich einfach nicht dafür geboren bin.“
Der alte Mann in seinem Sessel nickte bedächtig.
„Ich wünsche Ihnen, dass Sie möglichst bald herausfinden, dass es genau darauf eben nicht ankommt. Einzigartig und von Dauer, das ist relativ. In 1.000 Jahren kann auch mit einem Goethe keiner mehr was anfangen, und 1.000 Jahre sind gar nichts in der Erdgeschichte. Ich für mich habe festgestellt, dass es ganz allein darauf ankommt, keine Last auf der Seele zu haben. Das tun, was im Augenblick richtig ist, egal, ob morgen schon was ganz anderes richtiger sein könnte. Wenn es Ihnen wichtig ist, Bücher zu schreiben, wenn Sie das wirklich aus dem Herzen gern machen, dann kann Sie ohnehin nichts aufhalten. Wenn es Ihnen aber nur darum geht, ob Sie irgendwann mal damit Erfolg haben, dann sollten Sie es lieber lassen.“
Sie saßen sich noch eine Weile schweigend gegenüber. Lothar Sahm versuchte aufzuholen, was er zu notieren versäumt hatte in den letzten Minuten, als er sich selbst betroffen gesehen und seinen Auftrag vergessen hatte. Er sann über dies und jenes nach, notierte, neue Fragen wollten nicht aufkommen. So montierte er sein Blitzgerät auf die Kamera, fotografierte das, was einst Weltstar gewesen war, im Sessel zusammengesunken, dann mit gedankenverlorenem Blick am Fenster, schließlich an einer der Staffeleien und noch an einer anderen. Dann folgte der Jüngere dem Alten die Treppe hinab.
„Haben Sie Internet? Oder ein Faxgerät?“, fragte Lothar Sahm.
„Nein. Ich will den Text nicht gegenlesen. Vielleicht lese ich ihn überhaupt nicht.“
Auch Lothar Sahm war nicht daran gelegen, durch einen Korrekturabzug eitle Eingriffe an seiner Arbeit herauszufordern. Ihm war, als schriebe er den Artikel unter Diktat, als sei jedes Wort ganz sicher im Sinne des Porträtierten. Es wurde sein bester Seite-2-Beitrag und wohl sein am wenigsten beachteter. Liane
Weitere Kostenlose Bücher