König 01 - Königsmörder
Fackellicht. Mit hämmerndem Herzen wartete sie, bis der Karren sie erreichte. Das zottelige, braune Pony, das ihn zog, wurde immer langsamer, bis es stehen blieb, eine weiße Atemwolke vor dem Maul. Sie blickte in das von einer Kapuze verborgene, rätselhafte Gesicht der Person, die die Zügel des Ponys hielt. Knorrige Hände schoben die Kapuze zurück auf runde, herabhängende Schultern. »Dathne.«
Sie nickte. Versuchte zu lächeln. »Veira.«
»Nun, Kind«, sagte die alte Frau und rümpfte die Nase. »Wenn ich einige Jahre jünger wäre und meine Gelenke noch geschmeidiger, würde ich dir die Röcke hochziehen und dich dafür übers Knie legen.«
Dathne sah sie sprachlos an.
Das Licht der Fackeln warf zuckende Schatten über Veiras Gesicht. »Aber du bist eine junge Frau, und ich bin eine alte, und ich glaube nicht, dass es einer von uns beiden nach einer Tracht Prügel besser gehen würde. Also, steh nicht einfach mit offenem Mund da. Komm herauf zu mir, damit wir dich nach Hause und ins Bett schaffen können.«
Sie fuhren in verlegenem Schweigen beinahe drei Stunden lang über die schmale Straße, die sie wie ein schiefer, lockender Finger in den Schwarzen Wald führte. Zuerst wuchsen die Bäume nur spärlich, mit dünnen Stämmen und lichtem Blätterwerk, aber je tiefer das Pony in den düsteren Wald eindrang, umso robuster und kräftiger wurden die Djelbas, die Honigkiefern und die Trauerno– ras. Die Luft wurde zunehmend reglos, während die Ausschnitte des sternenübersäten Himmels zwischen den Baumwipfeln immer kleiner wurden. Obwohl sie Barls Mauer und den Bergen, in denen sie verankert war, jetzt um Meilen näher war, war ihr goldener Schein doch nur ein fleckiger Schatten. Eine bloße Andeutung. Wer in diesem Meer aus Bäumen lebte, konnte leicht vergessen, dass die Mauer überhaupt existierte.
Sie wünschte, sie hätte es vergessen können.
Der Geruch von verwesendem Mulch kitzelte sie in der Nase. Irgendwo links von ihr konnte sie Wasser tröpfeln hören. Um sich abzulenken, ließ sie den Blick über den dichter werdenden Wald um sie herum gleiten. Sie entdeckte einen leuchtend orangefarbenen Pilz auf einem herabgefallenen Baumstamm – Molchauge, gut zur Förderung der Konzentration – und wünschte, sie könnte Veira bitten, den Karren anzuhalten. Molchaugen waren im Umland der Stadt schwer zu finden.
Die Stadt. Sie war sechs lange Jahre ihr Zuhause gewesen, aber jetzt war sie ein Ort der Gefahr, den sie nie wieder aufsuchen konnte. Zumindest nicht, bis… Und immer vorausgesetzt, dass anschließend noch etwas übrig war, das man aufsuchen konnte. War ihre Abwesenheit bereits bemerkt worden? Hatte irgendjemand Alarm geschlagen? Suchten sie bereits nach ihr? Nun, sollten sie suchen. Sollten sie in der Stadt das Oberste zuunterst kehren. Sie würden keinen Hinweis finden, der ihnen half. Keine verräterische Spur von Brotkrumen. Sie war entkommen. Sie war in Sicherheit.
Sie hatte Asher im Stich gelassen.
Der Wald um sie herum verschwamm, und sie rieb sich das Gesicht. Falls Veira es sah, verlor sie keine Bemerkung darüber. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Pony und der gewundenen Straße vor ihnen. Dathne zog sich den Mantel fester um die Rippen. Sie fragte sich, was aus ihrer Buchhandlung werden würde, dieser bequemen Fassade, die sie entgegen ihrer Absicht zu lieben gelernt hatte. Was mochte aus all den Sachen in ihrer winzigen Wohnung über dem Laden werden? Veiras Befehl gehorchend, hatte sie nur die Dinge mitgenommen, die Verdacht wecken konnten. Ihren Zirkelstein. Ihre Oriswurzel, die Tanalblätter und andere Kräuter und Heilpflanzen, die man im Allgemeinen nicht in einer olkischen Speisekammer fand. Außerdem einige notwendige Kleidungsstücke. Eine Libelle in Bernstein, die Asher ihr am ersten Großen Barlstag nach seiner Ankunft in Dorana geschenkt hatte.
Sie spürte, wie ihr Herz stockte, und ballte die Hände auf dem Schoß zu Fäusten. Sie würde
nicht
an Asher denken.
Veira räusperte sich. »Noch eine halbe Stunde, dann werden wir da sein«, sagte sie.
Dathne nickte. »Gut.«
Es war eigenartig, die Stimme der alten Frau laut zu hören – ein freundliches und greifbares Geräusch –, nachdem sie über so lange Zeit nur von Geist zu Geist durch den Zirkelstein miteinander gesprochen hatten. Selbst ihr Anblick war ein Schock. In der Verbindung hatte sie jünger gewirkt. Glatter. Weniger runzelig. Veira, die sich ihrer forschenden Musterung bewusst war, kicherte
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