König 02 - Königsmacher
verwirken.
Und Jervals Erbe wird ihn erkennen, ihn leiten und ihn nicht einweihen.
Das war es. Das war alles, was sie hatte, alles, was ihr den Weg weisen konnte, diese wenigen Zeilen, die ihr an ihrem ersten Tag als Jervals Erbin zuteilgeworden waren. Der Ausdruck
dunkel
beschrieb es nicht einmal ansatzweise. Was für eine Schande, dass ihr verehrter Vorfahr ihr keinen Kalender, komplett mit hilfreichen Hinweisen und wichtigen, rot markierten Daten zu seinen verdammten Voraussagen hinterlassen hatte.
Seit Asher endlich aus ihren Träumen hinaus- und in ihr Leben hineingestolpert war, war sie jeden Abend mit dem gleichen Gebet auf den Lippen und in ihrem Herzen zu Bett gegangen: Jerval, sende mir noch ein Zeichen. Leite meine Schritte. Zeig mir, was als Nächstes zu tun ist.
Aber Jerval wahrte halsstarriges Schweigen.
Ein Wispern aus den Schatten ihres Geistes sagte: Was ist, wenn deine Gebete nicht erhört werden, weil Jerval genauso blind ist wie du? Was, wenn er nichts weiß, was über den Vers hinausgeht, den er vor all diesen Jahrhunderten hingekritzelt hatte, als die Olken und Doranen ihren schicksalsträchtigen Pakt schlossen? Was, wenn er dich nicht einmal hören kann?
Schaudernd schob Dathne ihr Rechnungsbuch in die Kasse und schlug die Lade zu.
Nein.
Sie würde das nicht glauben.
Konnte
es nicht glauben. Konnte es sich nicht einmal gestatten, sich Fragen zu stellen. Das Königreich Lur hing davon ab, dass sie kühl und beherrscht und zuversichtlich blieb.
In ihrem Leben gab es keinen Raum für Zweifel.
Nachdem sie ihre für den Tag letzten Verpflichtungen als Besitzerin der Buchhandlung versehen hatte, ging sie aus reiner Gewohnheit noch einmal zur Vordertür, um die Schlösser doppelt zu überprüfen. Nicht dass ein Diebstahl wahrscheinlich gewesen wäre. Die Strafen waren schwer und die Stadtwache aufmerksam, aber wenn junge Männer das eine oder andere Bier zu viel tranken, wozu sie beklagenswerterweise neigten, konnte sich das, was im nüchternen Licht des Tages wenig ratsam schien, in der beschwipsten Ausgelassenheit der Nacht in eine ausnehmend gute Idee verwandeln.
Als sie sich der Schaufensterauslage von Vev Gertsik letztem Liebesroman näherte, verspürte sie ein Prickeln von Magie, einen Atemzug unsichtbarer Macht, der über ihre nackte Haut strich. Sie runzelte zitternd die Stirn. Das war der einzige Nachteil ihrer erwählten, nützlichen Berufung: das ständige wispernde Summen der doranischen Bücher.
Die Doranen verschmähten die Benutzung von Tinte und den mühsamen Schriftsatz durch fleißige, nichtmagische Finger. Der Schweiß langer Anstrengung, das fröhliche Klappern in der Setzerei, wo Olken, Männer wie Frauen, mit flinkem Geschick Manuskripte in Bücher verwandelten, die das Abzeichen ihrer unvollkommenen Schöpfung wie eine stolze Flagge trugen, war nichts für das magische Volk.
Nein. Doranische Bücher waren glatt und poliert und perfekt. Keine schiefen Buchstaben, keine Flecken, keine verwischten Farben auf dem Einband oder der Titelseite. Doranische Bücher wurden aus zu einem nahtlosen Lied verwobenen Zaubern geboren, die makellose Seiten, Bindungen und Einbände hervorbrachten. Sie hatten eine Symmetrie, die die olkische Buchmachergilde zwar bewundern, aber niemals erreichen konnte.
Als sie noch einmal überprüfte, ob die Eingangstür verschlossen war, warf Dathne einen schiefen Blick auf den Einband des Buches von Gertsik mit seiner schmachtenden, blonden Heldin und dem kräftigen, blonden Helden, die einander auf höchst unwahrscheinliche Weise umfangen hielten. Die Liebesromane dieses Autors wurden ihr fast so schnell von den Regalen gerissen, wie sie sie auspackte. Gertsik war der Liebling der Doranen, und auch viele olkische Leser schätzten ihn ungemein. Aber Dathne konnte sich nicht dazu durchringen, ihn zu lesen oder die Begeisterung jener Olken, die es taten, zu akzeptieren. Auch wenn es nicht ihre Schuld war, dass sie nichts wussten von all den anderen Geschichten, die erzählt werden konnten; erzählt werden sollten. Ihren eigenen Geschichten. Olkischen Geschichten.
Vev Gertsik schrieb kitschige Romane über die Liebe zwischen Doranen in ihren Alten Tagen, die inzwischen seit Jahrhunderten tot und vergangen waren und damit überaus geeignet, um sie zu romantisieren. Die Alten Tage, da die doranische Magie grenzenlos war, da Barl und ihr Geliebter, Morgan, einander geküsst und nicht getötet hatten und der Krieg ebenso unvorstellbar gewesen war wie das
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