König 02 - Königsmacher
ihm jeden Augenblick Flügel wachsen könnten und er vor dem Schicksal, das ihn erwartete, davonfliegen würde.
Orrick schaute von seinen Pergamenten auf. »Der Gefangene ist sechzehn, Eure Majestät. Vor dem Gesetz ist er ein Mann, und als Mann muss er sich für sein Verbrechen verantworten.«
Der König nickte. »Also gut. In diesem Fall lasst uns mit dem Verhör beginnen. Barlsmann Holze?«
Holze senkte den Kopf, bis sein silbrig gelber Zopf herabbaumelte, und drückte sich eine Hand aufs Herz. »Lasst uns alle, die wir hier versammelt sind, die Leitung der gesegneten Barl erflehen, auf dass wir die Wahrheit erkennen und sie ohne Scheu aussprechen zum Ruhm derer, die die Mauer errichteten, und zum Trost all ihrer Kinder. O gesegnete Barl, wir stehen an diesem Ort und zu dieser Zeit vor dir, um die schweren Anschuldigungen zu hören, die deinem Sohn Timon Spake aus Grundberg zur Last gelegt werden…«
Asher unterdrückte ein Seufzen. Wenn er gewusst hätte, dass Holze eine Predigt halten würde, hätte er sich einen Sitzplatz gesucht. Jetzt musste er stehen und mit den Zehen wackeln, damit seine Beine nicht einschliefen, während der alte Geistliche immer weiter und weiter schwadronierte.
Nachdem er bei ihrer Ankunft im Wachhaus einen einzelnen, sengenden Blick von Jarralt überlebt hatte, hatte er sich in eine unauffällige Ecke des Verhörraums gezwängt, während die Vorbereitungen der Anhörung abgeschlossen wurden. Von dort aus konnte er wie befohlen die Vorgänge beobachten, ohne wirklich in das Ganze hineingezogen zu werden. Je länger er darüber nachdachte, umso besser gefiel ihm die Idee,
nicht hineingezogen
zu werden. Dieser trostlose, steinerne Raum bildete einen schroffen Gegensatz zu der Schönheit und der Pracht der luftigen Halle der Gerechtigkeit mit ihren Buntglasfenstern. Auch wenn in der Halle der Gerechtigkeit tagtäglich über wichtige Dinge entschieden wurde, herrschte dort eine gewisse Art von Helligkeit. Eine unausgesprochene Anerkennung der Tatsache, dass es, auch wenn die Anhörungen ernster Natur waren, trotzdem noch Licht und Lachen auf der Welt gab.
Hier war das nicht so. In diesem schlichten, überfüllten Raum hatten Licht und Lachen keinen Platz. Hier, abseits von Schönheit und Pracht, wurde das Leben der Menschen bis aufs Gerippe entblößt und beurteilt und - wenn ein Unrecht ermittelt worden war -beendet.
Der Verhörraum war voller Menschen: Der König und sein Kronrat, die eine Mauer der Missbilligung und Unversöhnlichkeit gegenüber dem schmutzigen Verbrecher bildeten, der zu ihren Füßen hockte. Auch Lady Marnagh von der Halle der Gerechtigkeit war zugegen; sie saß neben Orrick am Tisch und fungierte abermals als offizielle Schreiberin. Zwei Männer waren zugegen, die Asher nicht kannte. Sprecher des Angeklagten? Oder seine Gegner? Er konnte es nicht erkennen. Darüber hinaus fanden sich drei weitere Wachen im Raum, einer zu jeder Seite des Eingangs, durch den die Gefangenen hereinkamen, und einer vor der Tür, durch die der Untersuchungsbeamte den Raum betrat.
Gemäß seiner königlichen Würde saß Borne auf einem hohen, rotgoldenen Sessel auf einer erhöhten Plattform, die sich über die gesamte Länge des düsteren Verhörraums erstreckte. Gewandet in schmucklosen, schwarzen Samt, versprühte seine Krone im Licht der Glimmfeuer grüne und rote Blitze. Zu seiner Linken stand Meistermagier Durm, sehr ernst in einer schwarzen Brokatrobe. Gar stand zu seiner Rechten, nicht minder nüchtern gekleidet in mitternachtsblaue Seide. Holze, der immer noch mit seinem monotonen Singsang beschäftigt war, trug Weiß, wie es dem Königlichen Barlsmann zukam. Er stand zusammen mit Conroyd Jarralt, prachtvoll anzusehen in Pfauenblau, neben Durm.
Asher unterdrückte einen Fluch. So viele Menschen: Gewiss würden sie schon bald all die Luft in dem stickigen, fensterlosen Raum verbraucht haben. Er schwitzte schon jetzt, und der Schweiß rann ihm den Rücken hinab, brannte ihm in den Augen und klebte ihm unter den Achseln. Wenn es so weiterging, würde sein geziemend schmuckloses, grünes Hemd und das braune Wams, das der Schneider am vergangenen Nachmittag zusammen mit all den anderen Sachen in den Turm geschickt hatte, von Gestank und Salz verdorben sein.
Holze machte nicht den Eindruck, als würde sein Gebet bald enden. Asher sah den König an. Es war vielleicht nur Einbildung, aber er fand, dass Gars Pa noch magerer aussah als am vergangenen Morgen. Als hätte während der
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