König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
einmal ein Stammesoberhaupt oder dergleichen geruht – , doch offenbar war das Grab schon vor langer Zeit geleert worden, denn ich fühlte an diesem Ort nicht mehr Tod als im nahen Sumpf. Während der langen Verfolgungsjagd war mir der Zorn ein ständiger Begleiter gewesen. Chella hatte die Leiche des Nubiers mehr als ein halbes Jahr lang als ihr Spielzeug behalten. Ich wusste nicht, ob etwas vom Mann zurückbleibt, wenn Nekromantie den Körper belebt, aber die Möglichkeit, dass der Nubier gelitten hatte, erschien mir schrecklich genug, Rache zu schwören. Nur einmal zuvor hatte ich einen solchen Schwur abgelegt, und auch diesmal schwor ich wortlos und mit der Absicht, die ganze Welt zu zerreißen, wenn es notwendig sein sollte, den Schwur zu erfüllen.
»Ich möchte keine weitere Nacht an diesem Ort verbringen«, sagte Makin.
»Wirklich nicht?«, knurrte Rike, der auf dem größten Stein saß. Ich hatte nie zuvor Sarkasmus von ihm gehört; er schien ihn sich für einen besonderen Anlass aufgespart zu haben.
»Bitte steh auf, Rike«, sagte ich.
Er stand auf. Ich hob die Spitze meines Schwerts zu seiner Seite, stieß mit der Klinge zu und drehte sie. Damit löste ich Burlows Hand und schnitt auch ein Stück von der Jacke ab, an der sich die Hand festgehalten hatte. Ich schwang das Schwert, und die Hand flog, verschwand im Sumpf.
»Es hat uns in die Hölle verschlagen«, sagte Grumlow im Brustton der Überzeugung. »Wir haben uns verirrt, und jetzt sind wir in der Hölle.« Schlamm klebte in seinem Gesicht und Blut in seinem Schnurrbart; rote Spuren führten von der Nase zu den Lippen.
»Die Hölle riecht besser«, sagte ich.
Mit den Pferden bei uns blieb auf dem Erdhügel nicht viel
Platz, und außerdem nahmen sie uns die Sicht. Ich drückte die graue Stute beiseite und klopfte ihr aufs Hinterteil. Von den fünf übrig gebliebenen Pferden war nur sie entspannt genug, das kurze Gras zu probieren.
»Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte Makin.
Das sollten wir, aber wohin? Der Horizont bot nichts an. Außer vielleicht …
»Ist das das Meer?« Ich deutete nach Osten, wo sich eine vage schwarze oder blaue Linie hinter den fernsten Sümpfen zeigte.
Wenn einer der Brüder Antwort geben wollte, so kam er nicht dazu, weil plötzlich ein Schrei erklang. Ich wirbelte herum. Direkt hinter uns, bis zu den Oberschenkeln im Wasser und bis zur Brust im Schilf, stand Chella und hielt den jungen Sim an Kehle und Kopf. Mir schien, dass sie etwas mit ihm angestellt hatte, vielleicht mit seinem Hals, denn seine Arme hingen schlaff an den Seiten, obwohl er uns aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Wir nannten ihn den jungen Sim, und er mochte sechzehn Jahre alt sein, aber wenn es ums Töten ging, war er ein alter Hase, und ohne guten Grund hätte er nicht auf heftige Gegenwehr verzichtet.
»Du solltest nicht vor mir weglaufen, Jorg«, sagte Chella. Das Wasser hatte den Schlamm fortgewaschen, konnte der Haut in der Farbe von altem Teak aber nicht die Sumpfflecken nehmen. Die keltischen Muster schienen tief darin verwurzelt zu sein und nicht allein aus Farbe zu bestehen, wie ich früher gedacht hatte. Eine Nadel musste die Wirbel und Knoten an ihren Armen und Seiten geschaffen haben.
»Ich will nichts mit dir zu tun haben, Nekromantin.« Noch immer hielt ich die Armbrust des Nubiers in der Hand, obwohl ich sie nicht wieder geladen hatte. Ich zielte damit auf Chella und ging davon aus, dass sie nicht auf die Anzahl der Bolzen
achtete. »Welche Kraft auch immer ich aufgenommen habe, sie schwindet. Langsamer, als mir lieb wäre, aber sie wird bald ganz verschwunden sein, und das bedauere ich keineswegs. Ich will nichts mit dir und deinem schmutzigen Geschäft zu tun haben.«
Chella lächelte. »Der Tote König wird dich nicht gehen lassen, Jorg. Er versammelt alle von uns bei sich. Schwarze Schiffe warten darauf, uns zu den Versunkenen Inseln zu bringen.«
Ich gab keine Antwort. Der Zorn war von mir gewichen, als ich geschworen hatte, Chella zu vernichten. Rache ist geduldig, wenn sie es sein muss, und die Nekromantin wollte meine Brüder gegen mich verwenden, mich so in Rage bringen, dass ich ihr in einen der Tümpel folgte und darin versank. Ich ließ sie nicht wissen, dass ihr Trick fast funktioniert hätte.
»Bittest du mich nicht, deinen Bruder freizugeben, Jorg?« Sie zog Sim einen Meter weiter zurück.
Row hatte einen Pfeil auf sie gerichtet, und Grumlow schien diesmal zu einem Messerwurf bereit zu sein.
Weitere Kostenlose Bücher