König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
Sohlen abkratzen.
Wo der Vorort in die Untere Stadt übergeht, drängen sich die schäbigsten Tavernen an schmalen Straßen. Ich komme am Gefallenen Engel vorbei, wo ich Gelleths Ende plante und zum ersten Mal daran dachte, für Liebe zu bezahlen. Heute weiß ich es besser. Für Liebe wird immer bezahlt.
Ich wähle ein anderes Wirtshaus, den Roten Drachen. Ein großer Name für eine dunkle, stinkende Kaschemme.
»Bier«, sage ich.
Der Wirt nimmt meine Münze und füllt einen Krug aus dem Zapfhahn. Wenn er mich zu jung hält, hier zu trinken, bei den gebrochenen alten Männern mit ihren roten Nasen und wässrigen Augen, so beschließt er, zu schweigen.
Ich setze mich dorthin, wo ich eine Ecke des Schankraums im Rücken und die Fenster im Blick habe. Das Bier ist so bitter wie meine Stimmung. Ich trinke in kleinen Schlucken und warte auf den Beginn der Nacht.
Ich denke an Katherine und mache eine Liste.
Sie hat gesagt, dass ich böse bin und sie mich hasst.
Sie hat ihr Herz dem Fürsten von Pfeil geöffnet.
Sie hat versucht, mich umzubringen.
Sie hat das Kind getötet, von dem sie glaubte, es sei meins.
Sie wurde von einem anderen Mann geschändet.
Ich gehe die Liste noch einmal doch, während die Sonne untergeht, Trunkenbolde kommen und gehen, auf der Straße Karren, Huren, Hunde und Arbeiter vorbeikommen. Sie hält mich beschäftigt.
Liebe ist keine Liste.
Tief in der Nacht, und mein Krug ist seit Stunden leer. Ich gehe nach draußen. Hier und dort hängen Laternen, zu hoch für Diebe. Ein knauseriges Licht kommt von ihnen, das kaum den Boden erreicht.
Trotz des Wartens und der Entschlossenheit zögere ich. Kann ich erneut auf dem Pfad der Kindheit wandeln, ohne Makel? Über mir ziehen die Sterne über den Himmel, drehen sich langsam um den Polarstern, den Nagel des Himmels. Ein Teil von mir möchte nicht zur Hohen Burg zurück. Ich schiebe diesen Teil beiseite.
Auf der Neuen Brücke überquere ich den Fluss und finde eine stille Ecke, von der aus ich die Hohe Mauer beobachten kann. Die Stadt und ihre Teile sind mit der gleichen Einfallslosigkeit benannt worden, die die Erbauer auch bei der Architektur des
Schlosses gezeigt haben – der kastenartige Utilitarismus der Burg scheint sich auf die Stadt übertragen zu haben. Wenn ich die Macht hätte, für lange Zeit zu bauen, wenn ich wüsste, dass meine Werke aus Stein noch in Jahrtausenden existieren … Ich hätte wenigstens versucht, ihnen ein bisschen Schönheit zu verleihen.
Die Hohe Mauer ist tatsächlich hoch, aber nicht gut beleuchtet, und ein Stück westlich des Dreifachen Tors gibt es die Reste einer zweiten Mauer, die einst im rechten Winkel von ihr fort führte. Dort habe ich das Klettern geübt, als ich klein war. Heute erscheint mir alles leicht. Vorsprünge, die ich damals kaum erreichen konnte, brauche ich gar nicht mehr, weil sich die nächsten in Reichweite befinden. Meine Hände kennen diese Steine; ich muss sie gar nicht sehen. Das ist Erinnerung. Ich bin auf der Mauer, bevor der nächste Wächter kommt. Auf der anderen Seite macht Efeu den Abstieg zu einer leichten Angelegenheit.
Der junge Sim brachte sich selbst die Methoden eines Meuchelmörders bei. Er machte ein Hobby daraus: das kurze Messer, Gift oder auch eine Harfensaite, um zu erwürgen. Von allen meinen Brüdern ist Sim auf lange Sicht der gefährlichste. In einem direkten Kampf könnte ich ihn problemlos besiegen. Aber wenn man ihn aus den Augen verliert … Er greift nicht im nächsten Moment an, auch nicht am nächsten Tag. Er lässt sich Zeit, und wenn man den Groll, den er gegen einen hegt, schon vergessen hat, ist er plötzlich wieder da. Sim hat sich das lange Spiel beigebracht, und ich habe ihm das eine oder andere abgeschaut.
Tarnung ist keine Frage von Kleidung oder geschicktem Umgang mit Farben und Kajal. Tarnung liegt darin, wie man sich bewegt. Die richtige Uniform, ein Kinn aus Kitt, eine an der richtigen Stelle aufgetragene Narbe, all das kann unter
Umständen von großer Hilfe sein. Aber der erste Schritt, den Sim mich lehrte, der wichtigste Schritt, ist genau das: der richtige Schritt. Man bewege sich mit Zuversicht, zumindest mit Vertrauen in die eigene Rolle. Man glaube fest daran, ein Recht darauf zu haben, dort zu sein, wo man sich befindet. Man gehe zielstrebig. Wenn man das beherzigt, kann selbst eine Mütze eine vollständige Verkleidung sein.
Ich schritt durch die Straßen der Alten Stadt und hielt aufs Osttor zu, jenes Tor,
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