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König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

König der Dunkelheit: Roman (German Edition)

Titel: König der Dunkelheit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lawrence
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und der Form ihres Kopfes. Gebeugt saß sie da, trotz der Wärme des Tages mit einer Decke über den Knien. Sie wirkte kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte, und nicht nur deshalb, weil ich kein Kind mehr war. Nach dem Tod ihrer
Tochter hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen, als wollte sie der äußeren, feindlich gewordenen Welt auf diese Weise ein kleineres Ziel bieten.
    »In meiner Erinnerung bist du ein kleiner Junge – den vor mir stehenden Mann kenne ich nicht«, sagte sie. Ihr Blick strich über mich und suchte nach Vertrautem.
    »Wenn ich mein Spiegelbild sehe, empfinde ich ähnlich, Großmutter.« Und das Kupferkästchen an meiner Hüfte, jetzt in einem Samtbeutel, fühlte sich plötzlich sehr schwer an. Ich kenne mich überhaupt nicht.
    Eine Zeit lang saßen wir schweigend da.
    »Ich habe versucht, sie zu retten.« Ich hätte mehr gesagt, aber es waren keine Worte da.
    »Ich weiß, Jorg.«
    Die Distanz zwischen uns löste sich auf, und wir sprachen über vergangene Jahre, über eine Zeit, in der wir beide glücklicher gewesen waren. Für mich öffnete sich ein Fenster für die Welt, die ich vergessen hatte, und das war gut.
     
    Nach einer Weile saß ich zu ihren Füßen, die Knie an der Brust und die Hände vor ihnen gefaltet. Die alte Frau sang die Lieder, die meine Mutter vor langer Zeit gespielt hatte, auf den schwarzen und weißen Tasten im Musikzimmer der Hohen Burg. Großmutter verwandelte Worte in Musik, an die ich mich erinnerte, die ich aber nicht mehr hören konnte, und so saßen wir da, während die Schatten länger wurden und die Sonne unterging.
     
    Später, als angenehmes Schweigen lange genug dauerte, um mich davon zu überzeugen, dass meine Großmutter schlief, stand ich auf und ging zur Tür. Ich erreichte sie lautlos, ohne
ein Knarren, aber als meine Hand die Klinke berührte, sagte Großmutter hinter mir:
    »Erzähl mir von William.«
    Ich drehte mich um und stellte fest, dass sie mich mit schärferen Augen als zuvor ansah, als hätte ein Wind die Schleier des Alters gehoben, um sie, wenn auch nur für einen Moment, so zu zeigen, wie sie einst gewesen war, stark und aufmerksam.
    »Er starb.« Mehr konnte ich nicht sagen.
    »William war ein außergewöhnliches Kind.« Sie schürzte faltige Lippen, beobachtete mich und wartete.
    »Sie haben ihn zerbrochen.«
    »Ich bin euch beiden begegnet. Du warst so jung, dass du dich wahrscheinlich nicht daran erinnerst.« Sie wandte den Blick ab und sah zum Kamin, schien dort die Erinnerung von Flammen zu betrachten. »William. Es steckte etwas Grimmiges in ihm. Du hast auch etwas davon, Jorg. Eine Mischung aus Härte und Schläue. Ich hielt ihn und wusste: Wenn er sich gestatten würde, mich oder jemand anderen zu lieben, so würde er diese Liebe niemals aufgeben. Ich erkannte auch, dass er in seinem Zorn … erbarmungslos wäre. Vielleicht seid ihr beide dazu bestimmt gewesen, so zu sein. Vielleicht geschieht so etwas, wenn zwei Menschen, die stark sind und doch so verschieden, Kinder zeugen.«
    »Als sie ihn töteten …« Blitze hatte mir drei Bilder von ihm gezeigt, als sie ihn trugen. Ein erstarrter Moment ließ ihn in die Dornen starren, ins Herz des Dornenstrauchs, in meine Augen, ohne Furcht. Der zweite zeigte ihn mir an den Beinen gepackt, und im dritten schwang er, und sein Kopf zerbrach an einem Meilenstein, verwandelte sich in eine Wolke aus Blut und Knochensplittern. »Mein kleiner Kaiser«, hatte Mutter ihn
genannt. Sein blondes Haar an einem Hof mit schwarzhaarigen Verwalter-Ankraths.
    »Was ist zerbrochen?«, fragte Großmutter.
    »William«, sagte ich, aber die Jahre waren zu ihr zurückgekehrt, und sie sah mich durch zu viele Tage.
    »Du bist nicht er«, sagte sie. »Ich kannte einmal einen Jungen wie dich, aber du bist nicht er.«
    »Ja, Großmutter.« Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, und dann ging ich. Sie roch wie Mutter, das gleiche Parfüm, und etwas in ihrem Duft ließ meine Augen so heftig brennen, dass ich im Halbdunkel kaum die Tür fand.
     
    Sie gaben mir ein Zimmer im Ostturm, mit Blick aufs Meer. Der Mond malte ein Schimmern auf die Wellen, und ich saß bis tief in die Nacht da und lauschte ihren Stimmen.
    Erneut dachte ich an die Musik, die meine Mutter gespielt hatte und an die ich mich in Bildern erinnerte, nicht in Tönen. Ich sah, wie ihre Hände über die Tasten glitten, die Schatten ihrer Arme, die Wölbungen ihrer Schultern. Und zum ersten Mal seit Jahren erreichten mich einige Töne, als wir

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