König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
Leidenschaft, mit der er jeden Sieg anstrebt. Wenn man ihn kämpfen sieht, fragt man sich: Gibt es etwas, zu dem er nicht bereit wäre, um zu bekommen, was er will?
15. April, Jahr 102 Interregnum
Pfeil. Grünitpalast. Kräutergarten.
Egan ist noch da. Er hat sich schnell erholt, obwohl es eine schlimme Wunde gewesen sein soll. Er scheint es immer sehr eilig damit zu haben, zu heilen und zu dem zurückzukehren, was ihm am meisten gefällt: eine blutige Schneise in jede Streitmacht zu schlagen, die sich seinem Bruder Orrin entgegenstellt. Aber jetzt faulenzt er im Palast. Heute kam er sogar in die Bibliothek, die er sonst nie besucht.
Mir gefällt die Art und Weise, wie er mich ansieht, und gleichzeitig gefällt sie mir nicht. Ein animalischer Teil von mir genießt es, doch die Vernunft nimmt Anstoß daran. Zwar findet alles, was ich an Egan mag, den Anfang mit dem,
was mir meine Augen von ihm zeigen, aber es gibt hier dennoch etwas Rätselhaftes. Wenn er mich beobachtet, so mit einem instinktiven Verstehen von Frauen, das den Klugen, unter ihnen Orrin, vorbehalten bleibt.
Orrin und Egan führen in diesem Sommer wieder Krieg. Die Tage sind lang und heiß und einsam, obwohl es hier im Palast tausend Seelen geben muss, mindestens fünfzig von ihnen kultivierte und belesene Frauen, allein dafür da, mir Gesellschaft zu leisten.
Ich habe gelernt, in Gedanken zu reisen, jeden Teil von mir konzentriert und klar zu halten, während ich durch die Sphären des Möglichen und Unmöglichen gehe. Manchmal fliege ich, oder schwimme oder galoppiere. Der Pfad der Welt ist eine Linie, ein einzelner Faden durch die Weite eines Traums, und wenn ich dieser Linie folge, kann ich vorhersehen, was real ist, anstatt mich in der Beliebigkeit von fremden Vorstellungen zu verlieren. Ich habe Boten ausgeschickt, mit dem Auftrag, die von mir auf diese Weise besuchten Orte zu erforschen, und sie bestätigten die Wahrheit meiner Beobachtungen.
Vergangene Nacht erschien mir Jorg von Ankrath im Traum, und als ich von ihm träumte, verfing ich mich in dem Durcheinander, aus dem seine Albträume bestehen. An den Rändern seiner Träume wuchern Dornen, so dicht und spitz und scharf, dass ich beim Aufwachen damit rechnete, mein Nachthemd zerrissen und mich selbst voller Blut vorzufinden. Und über all dem wütet ein Sturm, so wild, dass er den Schlaf aus mir schüttelte. Es schien fast, dass er Barrieren errichtet hat, die Eindringlinge fernhalten sollen. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Bei ihm hat
es keinen Sinn, Boten zu schicken, um das Wahre zu erkennen.
An diesem Morgen habe ich Kopfschmerzen, der Federkiel zittert in meiner Hand, und ich betrachte diese Seite mit zusammengekniffenen Augen. In Pfeil gibt man Fenchelpulver, keinen Wermut, aber es wirkt nicht besser. Ich würde den Schmerz hinter meiner Stirn gegen die Stiche der Dornen tauschen, doch mir scheint, diesen Preis muss ich dafür bezahlen, in die Träume anderer Menschen zu schauen.
22. Mai, Jahr 102 Interregnum
Pfeil. Grünitpalast. Große Bibliothek.
Orrin schreibt mir, dass er Sageous als eine Art Berater in seine Dienste genommen hat! Nach der Flucht von Olidans Schutz hat sich der Heide am Hof des Herzogs Normardie eingerichtet. Orrin schreibt, dass sich Sageous als nützlich erwiesen hat, beim Erkennen des vor ihnen liegenden Landes und beim Deuten gewisser unruhiger Träume, die er in letzter Zeit hatte.
Ich schicke Orrin einen Brief mit dem schnellsten Reiter und bitte ihn darin, den Heiden unverzüglich wegzuschicken. Ich hätte lieber »hängen« als »wegschicken« geschrieben, aber Orrin ist selbst dafür zu … gerecht.
23. Juni, Jahr 102 Interregnum
Ich habe versucht, Orrins Träume zu besuchen, so wie ich es jede Nacht versucht habe, seit ich weiß, dass ich dazu imstande bin. Diesmal konnte ich keine Spur von ihm finden, nur dort eine leere Stelle in der Traumlandschaft, wo ich
nach ihm suchte, und die Erinnerung an ein Gewürz im Atem des Heiden, an Koriandersamen.
Verzweifelt suchte ich nach Egan in seinem Schlaf, aber auch ihn fand ich nicht. Mit den anderen in Orrins Gefolge war ich nicht vertraut genug, um sie bei den Hunderttausenden in der Traumlandschaft zu finden.
Ich habe einen neuen Arzt, einen schmutzigen kleinen Mann aus den slawischen Steppen, aber seine Infusionen beruhigen meinen Kopf. Er ist älter als alt, und die Worte der Reichssprache, die er kennt, klingen bei ihm seltsam. Jedenfalls
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