König der Dunkelheit: Roman (German Edition)
Verstorbener,
1710. Mein Herz liegt hier, 1908. Kaum lesbar. So viel Zeit ist vergangen, dass ihr Kalender jede Bedeutung verloren hat.
Die Grabsteine sind von einem klaren Harz härter als Glas überzogen, das ihnen eine Haut nicht dicker als ein Haar gibt. Ich habe es erst nach Jahren bemerkt. Die Verwitterung, die sie erfuhren, gehört zu einer fernen Vergangenheit. Heute können ihnen nicht einmal Hammerschläge etwas anhaben. Den Erbauern waren diese Kennzeichnungen wichtig genug, sie über Jahrhunderte hinweg zu erhalten.
Ich suchte mir einen Weg an den umgestürzten Grabsteinen vorbei, die nahe der Straße lagen, wo ein Teil des Friedhofs aus dem schützenden Dickicht des Waldes ragt. Viel ist hier schon vor langer Zeit geplündert worden. Ein wenig weiter im Westen steht ein ganz aus Grabsteinen errichtetes Bauernhaus, aus Granittafeln mit Inschriften, die Analphabeten die Namen von Verstorbenen nennen.
Ich fand sie am Rand der Straße, das Haar von herabgefallenen Blüten rosarot. Der Wechsel der Jahreszeiten hat ihren Zügen die scharfen Einzelheiten genommen, aber ihre Schönheit bleibt: klar ausgeprägte Wangenknochen, Anmut in langen Gliedern, die sanfte Wölbung einer Kindesbrust, Sommersprossen aus Flechten. Sie braucht keine tief in den Stein gehauenen Runen, um ihr Leben zu erklären. Hier habe ich mein Kind begraben. Eine Mitteilung, die auch des Lesens Unkundige verstehen. Sie starb im Winter eines verlorenen Jahres, die Tochter eines reichen Mannes, der seinen ganzen Reichtum gegeben hätte, und noch mehr, um es ihr zu ermöglichen, den Frühling zu erleben.
Ich sah sie zum ersten Mal im Herbst, vor langer Zeit, als die Blätter so dicht fielen, dass sie den steinernen Hund verbargen,
dem sie hinterherläuft. Während ich sie beobachtete, eilten auf der Straße andere Reisende vorbei, den Kopf im kalten Wind gesenkt. Einige von ihnen blieben stehen, blinzelten im Regen und fragten sich, wem oder was sie nachjagte. Sie setzten den Weg fort. Ich blieb. Vielleicht fragten sie sich, wem oder was sie selbst nachjagten.
Sie ist hinter ihrem Hund her. Ein kleiner Terrier, in Stein verewigt, und in jenem Herbst unter braunen, regennassen Blättern verborgen. Eine Jahrhunderte alte Jagd, die den Tod aller erlebt hat, die daran Anteil nahmen, das Ende eines jeden Sterblichen, der den Namen des Hundes kannte. Eine Jagd, die das Ermatten einer jeden Hand sah, die dieses Kinds berührt hat, den Verlust eines jeden Lebens, das seine Welt teilte.
Mit dem Schnee am ersten Tag des Winters kam ich erneut, um das Statuenmädchen zu betrachten. Vielleicht war es meine erste Liebe. Ich betrachtete es, während Schneeflocken fielen, kleine Kristalle, so perfekt, dass sie fast klirrten, als sie den Boden erreichten. Das Licht des Tages schwand früh, und eine Wildheit stahl sich in den Wind, wirbelte den Schnee auf, verwandelte ihn in milchweiße Ströme auf der Straße von Rom. Eis zischte über Stein. Frost kam und spann silberne Fäden in ihr Kleid, nur für mich zu sehen.
Die Jahreszeiten wechseln, und hier bin ich erneut. Und sie wartet noch immer auf den Frühling.
Feine Herrschaften hat man auf diesem Friedhof zu Grabe getragen, hohe Lords und Ladys, Dichter und Barden. Jetzt ist es ein Platz für die Leichen von Bediensteten. Er liegt so nahe bei der Hohen Burg, dass sentimentale Ladys ihre Ammen besuchen können, und doch weit genug entfernt, dass es sich geziemt. Man begräbt alte Diener und gelegentlich sogar treue Hunde in der Nähe meines Mädchens, das auf den Frühling
wartet. Weichherzige Damen vom Hofe kommen mit ihren parfümierten Spielzeugen hierher, wenn sie nicht mehr bellen. Und einmal war ein Junge von sechs Jahren gekommen, nass und halb erfroren, und er hatte etwas hinter sich hergezogen, das einmal ein Wolf gewesen sein mochte.
»Hallo, Jorg.«
Ich drehte mich um, und zwischen den Grabsteinen ging Katherine, mit von der Sonne verzaubertem Haar.
10
Vier Jahre zuvor
Hallo, Jorg. War es das, was sie zu mir sagte? Katherine, dort im Rennat-Wald, zwischen den Grabsteinen. Hallo, Jorg.
Ich versuche, aus etwas zu erwachen. Vielleicht habe ich das immer versucht. Ich ertrinke in Verwirrung, irgendwo über mir tanzt Licht auf einer Oberfläche, und jenseits davon wartet Luft. Sie wartet darauf, dass ich auftauche und mir die Lunge mit ihr fülle .
Ich kenne Katherine kaum, aber ich begehre sie, mit völlig unvernünftiger, wilder Leidenschaft. Es war wie eine Krankheit, wie das
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