König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
war tatsächlich kaum größer als Eleanor. Bislang hatten alle Engel Eleanor turmhoch überragt und allein durch ihre Körpergröße beeindruckend, manchmal gar gefährlich gewirkt. Lilith mochte klein sein, doch sie hatte etwas an sich, was sie unendlich bedrohlicher wirken ließ, als die anderen. Langsam hob Lilith ihre Hand und führte ihre Finger an Eleanors Kehle.
In diesem Augenblick schoss etwas mit so großer Geschwindigkeit an Eleanor vorbei, dass sie von den Füßen gerissen wurde und mitten auf der Landstraße in einer Pfütze landete.
Als sie vollkommen durchnässt wieder aufblickte, war Lilith verschwunden.
„Und du weißt nicht, was es war?“
Raphael ging unruhig in Eleanors Zimmer auf und ab. Für einen Engel war er in diesem Augenblick wieder einmal außergewöhnlich menschlich in seinen Verhaltensweisen. Er mochte sonst den Eindruck erwecken, über den Dingen zu stehen, ruhig und ausgeglichen zu sein. Doch wenn es um Eleanors Sicherheit ging, einer Sicherheit, die er nicht vollends garantieren konnte, dann fiel plötzlich jede Souveränität von ihm ab und er konnte wie ein Mensch von seiner inneren Unruhe vollkommen beherrscht sein. Einer Unruhe, die auch ihn selbst dann nur schwer kontrollierbar machte.
„Es ging alles viel zu schnell“, erwiderte Eleanor. „Ich habe nichts Genaues sehen können. Aber wer immer es war, hat einerseits Lilith von den Beinen reißen können und andererseits mich.“
Raphael biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Es kann nur ein Engel gewesen sein“, stellte er fest. „Kein anderes Wesen wäre stark genug für so etwas gewesen!“
Eleanor rieb sich den Oberschenkel, wo sich sicher demnächst ein gewaltiger, blauer Fleck bilden würde. So viel war sicher.
„Ich werde schon herausbekommen, wer das gewesen ist“, versprach Raphael. „Und vor allem, was hinter all dem steckt. Und dann nehme ich mir Lilith vor!“
„Nein, tu das nicht!“, fuhr Eleanor auf.
Raphael hielt überrascht inne. „Warum nicht?“
„Weil Lilith ganz sicher weiß, dass du Gewalt gegen mich rächen würdest. Und durch die Geschehnisse mit Samael weiß sie auch, dass du dafür dein Leben einsetzen würdest.“
„Und?“
„Sie weiß, dass mich zu töten ihr eigenes Todesurteil bedeuten würde. Also sollten wir uns fragen, warum sie das riskiert.“
Raphael blieb nun endgültig stehen. „Du hast recht“, gab er schließlich zu. „Wir durchschauen sie noch nicht…“
Eleanor erhob sich von ihrem Bett und trat auf den grübelnden Raphael zu. Sie nahm ihn sanft in die Arme und genoss das gute Gefühl, das er wie immer ausstrahlte. In Augenblicken wie diesen war ihr die Welt da draußen egal und alles erschien ihr leicht und sorgenfrei.
„Denk jetzt nicht so viel darüber nach“, sagte sie. „Wir werden schon herausbekommen, was hinter all dem steckt.“
Raphael atmete tief durch. „Ich weiß. Aber es verunsichert mich, wenn Dinge geschehen, auf die ich keinen Einfluss habe. Für einen Engel ist das nur schwer zu verkraften.“
„Vielleicht ist das dein Problem. Lilith ist kein Engel, sie ist ein Mensch. Wenn du sie verstehen willst, solltest du anfangen, wie ein Mensch zu denken.“
In dieser Nacht geschahen seltsame Dinge. Sie waren für niemanden zu sehen, denn sie ereigneten sich außerhalb der menschlichen Wahrnehmung. In jener grauen Zone zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Zeit und Ewigkeit, in jener Welt, die den Toten vorbehalten ist.
Es war, als wenn eine Stimme die Toten zu sich rief. Sie klang sanft und doch fordernd, niemand konnte sich ihr entziehen. Milliarden von Seelen erstarrten und hielten bei ihrem Klang inne, sie hörten auf, sich in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung selbst zu quälen und sahen sich hilflos nach der Quelle dieser Stimme um. Keiner von ihnen konnte das Wesen hinter der Stimme sehen, doch sie war immer um sie, hüllte sie ein und erfüllte sie ganz und gar. Die Stimme sprach von großen Dingen, von einer langersehnten Gerechtigkeit und dem Ende der Zeiten. Sie sprach von Erlösung – und alle hörten ihr gebannt zu.
Eleanor hielt inne. Sie war gerade im Begriff gewesen, die oberste Stufe des Treppenabsatzes zu betreten, der sie nach unten zu Elizabeth führen würde, als sie etwas Sonderbares wahrnahm. An dieser Stelle begann sie für gewöhnlich die Angst und Verzweiflung der gepeinigten Seele Elizabeths zu spüren. Heute jedoch war da nichts. Es herrschte völlige Leere, geradezu, als wäre Elizabeth
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