König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
gar nicht da.
Eleanor blieb zögernd stehen. Sicher, Elizabeth war nicht an das Treppenhaus gebunden und konnte sich in den Grenzen des Anwesens von Stratton Hall frei bewegen. Allein ihre unablässige Furcht hielt sie für gewöhnlich am Grund des Treppenhauses, dem Ort ihres Todes, fest. Aber was mochte geschehen sein, wenn sie diesen Ort aus eigenem Antrieb verlassen hatte?
„Ich spüre es auch!“, hörte sie Raphaels Stimme leise über sich. „Aber ich kann sie besser sehen als du. Sie sitzt dort unten. Sie scheint sich auf etwas zu konzentrieren, ich kann nicht genau erkennen, was es ist. Lass uns hinuntergehen.“
Eleanor nickte und gemeinsam gingen sie nun langsam durch das unbeleuchtete und düstere Treppenhaus hinunter an die Stelle, an der Elizabeth saß. Der Mond schien heute Nacht durch eines der Fenster des Treppenhauses und tauchte die Stufen in ein bläuliches und geisterhaftes Zwielicht, das zumindest verhinderte, dass Eleanor stolperte und die Treppe hinunterstürzte. Staubpartikel schwebten durch die kalte Luft des Schachtes und tanzten im Mondlicht zu einer Weise, die noch kein Lebender je gehört hat, einer Melodie, die allein den Toten vorbehalten ist und sie auf ewig in ihren Träumen plagt.
Endlich hatten Eleanor und Raphael den Grund des Treppenhauses erreicht. Während Raphael wachsam stehenblieb und den Kopf schief legte, als würde er lauschen, ließ Eleanor sich neben ihrer Freundin nieder. Sie versuchte, in dem formlosen Schatten neben sich eine Regung, ein Gefühl oder zumindest eine Reaktion auszumachen. Doch da war nichts. Elizabeth wirkte so steif und leblos, als wäre sie nur eine leere Hülle, geformt aus Licht und Schatten.
„Liz, was ist mit dir?“, fragte sie einfühlsam.
„Sie hört der Stimme zu“, flüsterte Raphael ergriffen.
„Der Stimme? Welcher Stimme?“
„Ich höre sie auch. Sie spricht von Vergebung und dem Ende der Zeiten. Sie spricht vom Tag des Jüngsten Gerichts und der Aufhebung aller Qualen.“
„Warum kann ich sie nicht hören?“
„Vermutlich bist du ohne das Tetradyxol nicht feinfühlig genug… ich…!“
Eleanor schrak zusammen. „Raphael! Was ist mit dir? Was sagt die Stimme?“
Nun war es an Raphael, steif und regungslos zu verharren. Sein Blick glitt plötzlich ins Leere und es wirkte, als nähme er seine Umwelt nicht mehr länger wahr. Zudem begann er sich offenbar unbewusst zu verändern. Hatte er eben noch in der Gestalt eines Menschen in Jeans und Hemd neben Eleanor gestanden, begann er nun von innen heraus zu leuchten und seine Engelsgestalt anzunehmen. Seine Flügel, nur halb ausgebreitet, nahmen bald den größten Teil des Raumes am Treppenabsatz ein.
„Raphael, du machst mir Angst!“, wimmerte Eleanor, während sie Schritt für Schritt vor Raphaels leuchtender Gestalt zurückwich.
Das Glühen in Raphaels Körper nahm noch weiter zu, wurde intensiver und heller, strahlte bis in den hintersten Winkel des Treppenabsatzes. Und dann war es ganz plötzlich fort.
Die Dunkelheit brach so plötzlich über das Treppenhaus ein, dass Eleanor einen Augenblick lang das Gefühl hatte, blind geworden zu sein. Mühsam versuchten ihre Augen die Finsternis zu durchdringen und sahen doch nichts als Schwärze und Nacht. Seltsamerweise war es zuerst Elizabeths Stimme, welche die Dunkelheit durchbrach.
„Eleanor? Eleanor, bist du das?“
„Ja“, erwiderte Eleanor mit zitternder Stimme. „Ja, ich bin es.“
„Hast du die Stimme auch gehört?“
„Nein, ich nicht. Aber Raphael hat sie gehört.“
„Ja, das habe ich“, war seine brüchige Stimme zu hören.
Langsam begann Eleanor nun wieder sehen zu können. Die Konturen des Treppenhauses nahmen mehr und mehr Form an, wurden heller und deutlicher. Sie blickte zu Raphael und erschrak, denn im düsteren Mondlicht der Nacht wirkte sein Gesicht noch bleicher als sonst. Man hätte meinen können, er stünde unter Schock, wenn so etwas bei einem Engel möglich wäre. Eleanor trat auf ihn zu und ergriff sanft seine Hand. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als ihre Berührung ihn wieder zu Bewusstsein brachte.
„Die Stimme…“, begann er verwirrt. „Sie war nicht für mich bestimmt. Sie richtete sich an die Toten. Ich habe sie nur hören können, weil ich in deinen Geist eingedrungen bin, Elizabeth.“
„Was war das für eine Stimme?“, fragte Eleanor. „Was hat sie gesagt?“
Erst jetzt schien Raphael Eleanor tatsächlich wahrzunehmen. Er sah sie fassungslos an und sagte dann:
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