König der Seelen (Höllenfeuer) (German Edition)
und beinahe spöttisch auf ihn hernieder sah.
„Dein Tag scheint bisher schlecht gewesen zu sein“, sprach das Wesen. „Ich kann das ändern!“
Unsicher blickte Michael in ein Gesicht empor, das sich vollkommen von allem unterschied, was er bisher auf dieser Welt gesehen hatte. Das Wesen hatte die Gesichtszüge einer Frau, daran konnte es keinen Zweifel geben. Einer wirklich atemberaubend schönen Frau, deren unfassbar große, dunkel leuchtende Augen in einem merkwürdigen Kontrast zu dem goldenen Strahlen ihrer Haut standen. Sie schien nackt zu sein, doch Michael hätte es nicht sicher zu sagen vermocht, war er doch völlig außerstande, den Blick von ihren wunderschönen Augen zu lösen. So musste eine Göttin der Alten Welt, der Antike, ausgesehen haben. Hera, Isis oder Athene.
Plötzlich aber wurde sein Blick abgelenkt, als das Wesen ein paar riesige Flügel auf seinem Rücken entfaltete. Ein Engel! Unglaublich – er kniete vor einem Engel, das war nicht zu bestreiten. Von dem Wesen ging eine Welle von Gefühlen aus, die über ihn hinweg brandeten, ihn einhüllten und ihm den Atem raubten. Die meisten konnte er nicht unmittelbar zuordnen, doch vor allem anderen spürte er die Macht, die von diesem Engel ausging. Eine Macht, die roh, ungestüm und unkontrollierbar wirkte. Dieses Wesen war gefährlich, dessen wurde Michael sich schlagartig bewusst und er begann zu zittern.
„Hab keine Angst!“, lachte der Engel bei seinem Anblick. „Es sind andere, die mich fürchten müssen.“
„Wer bist du?“, fragte Michael mit brüchiger Stimme, während er ihr Gesicht in dem strahlenden und gleißenden Leuchten zu erkennen versuchte.
Der Engel legte den Kopf schief und lächelte beinahe süß auf den jungen Menschen herab. „Ich bin Lilith!“, erwiderte sie. „Und ich bin hier, um dir ein Geschenk zu machen. Ein wertvolles Geschenk!“
Das Mittagessen lag bereits hinter Eleanor und Raphael, als die beiden gemeinsam den großen Speisesaal verließen und in den ersten Stock hinaufgingen, um einen Blick in die kleine Kapelle zu werfen, in der Eleanor vor einigen Wochen für die Seele von William Foltridge gebetet hatte. Raphael war noch nie zuvor hier gewesen und blickte mit Spannung auf den Besuch dieses Ortes.
Die Gerüche des Speisesaals verfolgten sie noch durch mehrere Korridore und selbst ins Treppenhaus hinein, wo sie sich durch den Kamineffekt des Turmes besser verteilten und schließlich gänzlich verflüchtigten. ‚Seltsam“, dachte Eleanor. ‚Ob Geister riechen können? Ob Elizabeth jeden Tag hier unten hockt und das Mittagessen riecht?“
Eine schauderhafte Vorstellung, dachte Eleanor. Als Toter den Geruch des heutigen Mittagessens – Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Speck – wahrnehmen zu müssen, ohne seinen Appetit befriedigen zu können, war ein grausamer Gedanke. Eleanor schob ihn schnell beiseite und konzentrierte sich stattdessen auf Raphael, der scheinbar unbeschwert vor ihr die Treppen voranschritt. Sie war sich durchaus über die Tatsache im Klaren, dass seine Sorglosigkeit keineswegs echt war. Zu sehr nagte die ständige Bedrohung Liliths und der unbekannten Stimme, die zu den Toten sprach, an ihm. Wer ihn nicht besser kannte, hätte unter Umständen nichts bemerkt, doch die Art, wie er aufmerksam und zugleich unablässig seine Umgebung mit offenkundiger Oberflächlichkeit beobachtete, sprach ganze Bände. Zumindest wussten sie nun, dass es Asasel gewesen war, der Eleanor auf der Landstraße vor dem Sanatorium vor Lilith gerettet hatte. Allein den Grund für sein merkwürdiges Verhalten kannten sie bislang nicht, doch es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie seinen wahren Motiven auf die Schliche kämen. Bis dahin sahen sie seinen Schutz als nicht verlässlich an und so kam es, dass Raphael nicht von Eleanors Seite wich. An ihm würde niemand vorbeikommen – weder Mensch noch Engel.
Umso erstaunter war Eleanor, als er so plötzlich vor ihr stehen blieb, dass sie von hinten in ihn hineinlief. Sie hatten eben die große Flügeltür durchschritten, die den vom großen Treppenhaus abgehenden Korridor von jener Raumflucht trennte, zu deren Beginn sich die kleine Kapelle befand. Sie musste jetzt direkt vor ihnen liegen, doch Eleanor konnte an Raphaels breitem Rücken nicht vorbeisehen. Da er auf ihre sanften Knüffe nicht reagierte, schob sie sich schließlich an ihm vorbei, um den Grund für sein Zögern zu sehen.
Und dort, vor der Kapelle, stand Michael und blickte
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