König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
klettern, in mein Haus, und auf der Schaukel zu sitzen? Und dass bereits meine Volksschullehrerin an einem Montag vor der versammelten Klasse den lieben Gott darum gebeten hat, mitzuhelfen, aus mir einen weniger schweigsamen Menschen zu machen? (Damals schickte Gott noch ein Donnergrollen zur Antwort, aber die Lehrerin hat es nicht gehört oder missverstanden.) Und das alles, all diese Albträume, weil Professor Stein mich wissen hat lassen, dass sie mich »im Blick hat«, mehr als die andern? Stell Dir vor, sie hat gesagt, ich solle »den Stier bei den Hörnern packen«. Begreifst Du das? Was soll denn dann mit Flora werden? Lina.
VII.
Flora steht vorne am Podium, die Haare im Nacken zusammengebunden, eine Kreide in der Hand. Ich erkenne sie kaum wieder, so sicher verbunden wirkt sie mit dem Boden, ganz anders, als wenn sie, mit leicht gekrümmtem Rücken und zugeschnürtem Brustkorb, Professor Steins Bücher aus der Bibliothek holt, um sie auf ihrem Schreibtisch, neben Babel, abzulegen. Sie darf jetzt ein kleines Referat halten, zur Übung: »Ich möchte zu Ihnen über einen Satz sprechen, der mir kürzlich unterkam. Er war, bitte bedenken Sie das, in die Kopie eines Gemäldes geschrieben, das in einem Museum der Stadt an der Wand hängt, um dort womöglich zu Recht wenig beachtet zu werden. Denn sehen Sie, es ist ein Bild, auf dem sich wenig ereignet: keine Schlachten und keine Götter, die kleine Buben entführen, keine in enge Kleider geschnürte Prinzessinnen, wahrscheinlich eine gänzlich unzureichende Pinselführung, die uns das Gezeigte nicht halb so wirklich erscheinen lässt wie das jener Gemälde, die sich daneben tummeln und bestimmt von namhafteren, berühmteren Geistern hervorgebracht wurden. Ich wage ja sogar zu behaupten, dass sich perspektivische Ungenauigkeiten darin finden, dass sich der Sessel unter der Hand des Malers verzerrt hat. Und dann die Armut, die Armut in diesem Bild. Was hat sich der Maler hier wohl gedacht? Was hat ihn bewegt, außer dem Unvermögen, die Wirklichkeit in einem Blick zu bannen, der uns in ein schönes, ein gutes Zimmer schauen lässt, wo sich mehr als eine Person aufhält, eine Gemeinschaft eben, eine Familie vielleicht oder eine Anzahl miteinander Befreundeter? Stattdessen: eine Frau, die aus dem Fenster sieht, allein, verstehen Sie, und nur Dunkelheit um sie herum. Und ihre Rückseite, ihr Hinterteil, wenn ich so sagen darf: Soll uns das froh stimmen? Gibt es uns das Gefühl, hier zu sein? Vertieft es unsere Einsicht in das Leben, lehrt es uns etwas über die Welt? Was aber sagen Sie nun vollends, wenn ich Sie über den Satz informiere, der in die Kopie geschrieben stand, mit der Handschrift einer Erwachsenen, nicht eines Kindes: Ich bin hier gewesen . Müssen wir’s glauben? Soll’s wahr sein, dass sich irgendjemand, der einfach ich sagt, in dieses Zimmer verirrt hat, in ein Bild, zumal in dessen Kopie? Und sich zum Fenster hinaus lehnt, womöglich zu weit, oder den Mantel vom Haken nimmt, um hinaus zu laufen, auf die Straße? Was für ein »Ich«! Zeigt sich, verschwindet, läuft davon, weicht aus, zieht sich ein Kostüm an (den abgelegten Mantel aus einem Bild), spielt. Spielt. Spielt da gewesen sein . Aber wo denn, ja, wo denn? In unserm Institut für Gedankenkunde etwa? Hier, wo wir uns auf eine Zukunft vorbereiten, in der wir dem Volk die Welt zu Füßen legen, fraglos, mit tiefen Blicken. Aber ein solches Bild? Doch nicht! Strotzt vor Armut, Langeweile und Einsamkeit. Wo bitte sind hier die andern , sind wir, die auserwählten Freunde? Erhebt sie sich etwa über uns, diese Kopie? Glaubt das Ich im Satz, sich das Recht heraus nehmen zu dürfen, verborgen zu bleiben?« Floras Kreide bricht in ihren Fingern entzwei. Professor Stein klopft mit ihren Händen auf den Tisch, erhebt sich (sie hat in der vorletzten Reihe Platz genommen) von ihrem Stuhl, und stößt, ehe sie sich prüfend im Hörsaal umblickt, einen tiefen Seufzer aus. Einen Augenblick bleiben ihre Augen an mir haften, so kalt und feurig zugleich, dass mir bange zumute wird und mein Atem stockt. »Was Flora Tauber Ihnen soeben vorgeführt hat, das nenne ich den Stier bei den Hörnern packen , das nenne ich Wahrheitssuche. So hat einer zu reden, der weiß, was er will. So dezent, zurück genommen und deutlich zugleich. Und wir haben in dieser Durchleuchtung eines Satzes auf einem Gemälde etwas Neues und Wesentliches erfahren: Wer immer nun da gewesen ist , in diesem Zimmer, das Flora Taubers Augen so
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