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König Mythor

König Mythor

Titel: König Mythor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Hoffmann
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zu sehen, doch bevor sie starben, schossen sie ihre Samenspeere oder die schrecklichen Kreaturen ab, die aus ihnen hervorwuchsen.
    Nahirs Augen schmerzten. Die Schreie seiner Krieger dröhnten in seinen Ohren. Sie waren stumpf im Geist geworden, schlugen mit ihren brennenden Fackeln nach allem, was sich auf der Mauer kriechend bewegte, und manches Mal trafen sie einen Kameraden, der nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen. Und wer kraftlos liegenblieb, den holten sich die Schleimgebilde.
    Große Abschnitte der Stadtmauer waren aus der Befestigung herausgebrochen worden. Riesige Lücken klafften darin, und über das Geröll auf der Straße schoben sich die gespenstische Armee aus peitschenden Strängen und ihre Vorhut: im Schein der Feuer blass schimmernde unheimliche Leiber aus Schleim, umherschwingenden Auswüchsen und Augen, groß wie Männerfäuste.
    Nahir hatte gesehen, wie sich Krieger, vom Grauen überwältigt, allein beim Anblick dieser Kreaturen von der Mauer in den Tod stürzten oder sich das Schwert in die Brust stießen. Er selbst war nahe daran gewesen, aufzugeben.
    Die Straßen waren überwuchert. Schlangenarme schoben sich über die Dächer der höchsten Häuser und tasteten nach Leben. Sie krochen in Fenster und brachen die Mauern auf. Dort unten befand sich kein lebender Leoniter mehr. Unheimliche Kräfte waren am Werk, Kräfte, die nicht von dieser Welt waren. Wo noch vor Stunden erste vereinzelte Pflanzen aus dem Boden gebrochen waren, peitschte, ächzte, stöhnte und sang ein Dschungel des Todes.
    Nur eine Bresche gab es noch, die die Krieger dort unten freihalten konnten, eine einzige Straße, zu der Nahir alles dirigiert hatte, was sich noch auf den Beinen halten und die Blasebälge bedienen konnte. Lachen brennenden Öles trieben den Pflanzen und Chimären entgegen, die dort angriffen.
    Es war der einzige noch verbliebene Fluchtweg, denn auch außerhalb Leones wucherten die peitschenden Schlangenarme. Nahir schickte einen seiner Krieger nach dem anderen von der Mauer, bis er als letzter auf dem Wehrgang stand. Mit den Pechfackeln in beiden Händen schlug er nach herangleitenden Chimären. Dann schüttete er den letzten Kessel mit heißem Öl vor sich aus und warf die Fackeln in die Lache.
    Vergeblich hatte er auf den neuen König gewartet. Voller Verbitterung kletterte er die zum Teil schon brennenden Treppen hinab und sprang das letzte Stück. Seine Krieger schirmten ihn mit Feuerwerfern gegen die anrückende Pflanzenarmee ab. So schnell sie laufen konnten, zogen sie sich von der Mauer zurück und überließen sie dem unheimlichen, gnadenlosen Gegner.
    Etwa fünfzig Mann verteidigten die Straße, und knapp die Hälfte von ihnen schaffte es, dem über ihnen zusammenschlagenden Dschungel zu entkommen. Dort, wo die Pflanzenmauer aufhörte, standen andere mit frischen Pferden. Nahir wurde in den Sattel geschoben und klammerte sich am Hals seines Reittieres fest.
    »Ich war im Palast!« rief ein Krieger, der neben ihm auftauchte. »Ich habe mit dem König gesprochen! Hapsusch versuchte es mit aller Gewalt zu verhindern!«
    Nahir hörte es kaum.
    »Er wird zum Baum des Lebens gehen, um ihn gegen die Dämonen zu verteidigen, Hauptmann! Du sollst während seiner Abwesenheit die Geschicke der Stadt in die Hand nehmen!«
    Auch das drang kaum an Nahirs Bewusstsein. Erst später, als er schwer atmend auf einem Lager zwischen Verletzten und Sterbenden in einer schnell eingerichteten Notunterkunft lag und seine Wunden und Verbrennungen behandeln ließ, erfasste er die Bedeutung der Worte.
    Draußen graute der Morgen, und mit dem Licht des neuen Tages, so schien es, kehrte Stille in Leone ein. Doch es war eine unheilverkündende Stille.
    *
    Es schien tatsächlich so, als banne das erste Licht des neuen Tages die Macht der dämonischen Kreaturen, die in der Nacht ein Viertel der Stadt Leone erobert hatten. Wie schon einmal, kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit, brach das Singen und Ächzen der Schlangengewächse ab, und die geschmeidigen grünen Stränge reckten sich starr dem Himmel entgegen. Die Chimären verfielen in eine todesähnliche Starre, und Hauptmann Nahir schickte seine frischesten Krieger in den Osten der Stadt, um diese unerklärliche Starre auszunutzen und sie und ihre Ausgeburten zu verbrennen - aus sicherer Entfernung.
    Mythor und Hapsusch waren bereits aufgebrochen, als Nahir den Palast am frühen Morgen erreichte. Kaum noch jemand war auf den Straßen. Frauen, Kinder und alte Männer hatten

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