Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
waren ungewöhnlich. Sie strahlten in einem so eindringlichen Blau, wie es der Ritter bisher noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Als sich der Mönch zu seiner vollen Größe aufrichtete, hatte Heinrich einen Moment lang das absurde Gefühl, vor einem leibhaftigen Erzengel zu stehen.
»Mein lieber Freund«, begann der Grieche in seinem schulmeisterlichen Ton, den Heinrich so sehr an ihm hasste. »Es gibt mehr verschiedene Bibeln, als ich dir an diesem Nachmittag aufzählen könnte. Du kannst gewiss sein, dass ich dich mit meinen Fragen nicht behelligen würde, wenn nicht die Bibel der Schlüssel zu unseren Problemen sein könnte. Die Bibel, in der du gelesen hast, war vermutlich eine Abschrift der Bibel des Hieronymus. Es ist die im Westen gebräuchlichste Fassung der Heiligen Schrift. Vielleicht war es auch eine altlateinische Vetus Latina, doch das bezweifle ich. Abschriften von ihr sind recht selten. Was weißt du eigentlich über das Buch, in dem Gottes Wort festgehalten wurde?«
Heinrich hob hilflos die Hände. »Was man mich gelehrt hat, ich … ich habe mich stets bemüht, mein Leben nach Gottes Wort zu führen und …«
»Vergiss das! Worte sind stets nur von Menschen. Die Geschichte der Bibel hat viel gemein mit der babylonischen Sprachverwirrung. Wusstest du, dass Jesus Aramäisch sprach? Die Evangelisten haben aber in Griechisch geschrieben. Falls wirklich sie es waren, die uns von Gottes Sohn berichteten. Hast du einmal einen Text aus deiner Muttersprache ins Lateinische übersetzt, Heinrich? Würdest du sagen, dass du in der fremden Sprache Wort für Wort wiedergeben könntest, was du in deiner Muttersprache sagen wolltest?«
»Ich … Es ist in der Tat nicht leicht …«
»Für euch im Westen wurde die Bibel ins Lateinische übersetzt. Natürlich benutzte man dafür die griechischen Texte, aber es gab davon schon sehr viele, die sich zum Teil erheblich unterschieden, und es gab auch Übersetzer, deren Frömmigkeit ihre Fähigkeiten überstieg, eine fremde Sprache zu meistern. Manche hielten es auch für richtig, Stellen zu ändern. Und bisher sprachen wir nur über die Evangelien. Beschäftigen wir uns mit den älteren Teilen, wird alles noch verwirrender. Was also ist die Bibel? Gottes Wort?«
»Gott lenkt all unsere Taten. Er würde gewiss nicht zulassen, dass man die Bibel verfälscht«, empörte sich der Ritter.
»Hattest du schon einmal das Gefühl, dass der Herr dich auf die Probe stellt, Heinrich? Welche größere Probe könnte es für einen Christen geben als eine fehlerhafte Bibel? Das Buch, nach dem der Fromme sein Leben ausrichtet! Vielleicht sollten wir lieber versuchen, die Bibel mit dem Herzen zu lesen, statt sie nur stur Wort für Wort zu deuten, wo doch diese Worte gewiss nicht Gottes Worte sind.«
Es war sinnlos, sich mit Zenon auf dem Gebiet ketzerischer Reden messen zu wollen. Der Mönch verstand es zu gut, ihm das Wort im Munde herumzudrehen. Wenn Heinrich ihm noch länger zuhörte, würde es Zenon am Ende noch gelingen, die Saat des Zweifels in seinem Herzen keimen zu lassen. »Was hat das mit den Drei Königen zu tun?«, fragte er scharf, um das unliebsame Thema zu wechseln.
Zenon lächelte, als habe er seine Absichten durchschaut. »Komm her!« Er winkte Heinrich herbei und machte Platz an seinem Lesepult. Ein Codex mit Seiten aus purpur gefärbtem Pergament, auf die in goldenen Buchstaben geschrieben war, lag aufgeschlagen auf dem Pult. In die obere
Ecke der linken Seite war eine Miniatur gemalt, welche die Drei Könige zeigte, aber … Heinrich beugte sich tiefer über das Buch. Auf den ersten Blick sah man drei Reiter mit Heiligenscheinen, jeder von ihnen hielt ein Schmuckgefäß in der linken Hand. Doch hinter ihnen drängte sich noch ein vierter Reiter, der durch die Heiligen vor ihm größtenteils verdeckt war. Und auch ihn schmückte ein Heiligenschein!
»Wie du siehst, war mein kleiner Vortrag über die Bibel keineswegs ein Versuch, dich einzuschüchtern oder deinen Glauben zu erschüttern. Du findest mich selbst in tiefer Verwirrung. Vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, den Weg aus diesem Labyrinth zu finden.« Er wies auf eine Zeile des goldenen Textes. »Diese Bibel ist mehr als sechshundert Jahre alt. Sie stammt aus der Zeit des Kaisers Justinian und ist einer der ältesten Codices, die wir in unserer Bibliothek verwahren. Und hier ist von vier Königen die Rede!«
Heinrich kratzte sich den Bart. Er vermochte den griechischen Text nicht zu lesen. Der
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