Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
lassen. Es war das erste Mal, dass er keine Tränen für die beiden hatte. Lupo hatte darin ein Zeichen gesehen, dass sein Weg nun zum Ende gelangt war. Und dann waren die Hirten gekommen … Als hätte Gott selbst sie geschickt! Sie hatten ihn freundlich behandelt. Obwohl er kein Wort von ihrer Sprache verstehen konnte, hatten sie lange auf ihn eingeredet. Wahrscheinlich hatten sie wissen wollen, was einen Mann allein in die Wüste führte.
Als er wieder weiterziehen wollte, hatten sie darauf bestanden, ihm einen Führer mitzugeben. Der Falkner blickte zu dem kleinen Mann in den schwarzen Gewändern. Als sein Gefährte bemerkte, dass er beobachtet wurde, deutete er auf die Stadt und gestikulierte. Lupo nickte. Er verstand schon. Die Gesten reichten, um ihm klarzumachen, dass der Ziegenhirte ihn nicht in die Stadt begleiten würde. Es war also wieder an der Zeit, sich von einem Reisegefährten zu trennen. Womit könnte er sich erkenntlich zeigen? Was konnte man einem Retter, der vielleicht von Gott geschickt war, schenken? Mit Münzen wüsste sein Kamerad wahrscheinlich nicht viel anzufangen. Aber vielleicht mit
einem Messer? Ausgerechnet ein Messer? Doch, es war ein gutes Geschenk! Mit dieser Klinge würde er nie mehr töten. Er blickte den Weg hinab. Die vier dort unten noch, schwor er sich stumm, und dann würde es enden. Selbst gegen die Mörder, die in Crema gewütet hatten, würde er nicht mehr die Hand erheben. Vielleicht würden seine Seelenpein und seine Verzweiflung am selben Tag enden, an dem er von seinem Wunsch nach Rache ließ.
Er öffnete seinen Gürtel und streifte den Dolch samt Scheide ab. Der Hirt lächelte ihn erwartungsvoll an. Lupo zögerte. Bevor er seinen Führer ziehen lassen konnte, musste er wissen, ob es hier oben irgendwo Wasser gab. Zur Stadt hinunterzureiten wäre zu riskant. Aila war einfach zu klein! Womöglich würde er dem Mönch oder den Rittern in die Arme laufen. Er müsste sich wieder einmal in Geduld fassen und beobachten! Und wenn sie von dort unten weiterritten, dann würde er sich in der Stadt einen neuen Führer suchen. Er würde sich nicht noch einmal allein in das tote Land hinauswagen!
21
Der Falkner ritt nahe den hohen gelbbraunen Felsen, so wie sein Führer Selim es geraten hatte. Links von ihnen erstreckte sich eine Ebene von Sand, über der flimmernd das Licht tanzte. Ein paar Meilen entfernt erhoben sich wieder Berge. Lupo strich sich
über die Stirn. Er hatte Kopfschmerzen. Man spürte, wie die Hitze von den Felsen reflektiert und in das weite Tal voller Sand zurückgeworfen wurde. Es war ein riesiger, unerbittlicher Glutofen. Lupo stöhnte leise. Er war nicht geschaffen für dieses Land. So wie sein Führer trug er ein rotes Tuch um den Kopf gewunden, um sich vor der Sonne zu schützen.
Der Falkner beneidete seinen Führer und wünschte, er könne die Hitze so gut ertragen wie der Beduine. Selim war von mittlerer Größe, schlank und ging ein wenig gebückt. Seine Gesichtsfarbe war von hellem Braun, die Augen groß und schwarz. Er hatte eine schmale, gebogene Nase, und seine Mundwinkel waren stets herabgezogen, so als brüte er über alte Kränkungen. Am ungewöhnlichsten jedoch waren seine Hände. Lang, schlank und zierlich, entsprachen sie so gar nicht den Händen, die man bei einem Hirten erwartet hätte, der sein Leben lang an harte Arbeit gewöhnt war.
Nervös zuckte Selims Kopf hin und her. Ein wenig erinnerte er an einen Raubvogel, der nach Beute Ausschau hielt. Selim gehörte zu den Laheiwat, deren Stammesgebiet bei Aila begann. Doch vor zwei Tagen hatten sie das Land seines Volkes verlassen. Wenn es stimmte, was er sagte, dann hatte es in dieser Bergwüste seit sieben Monaten nicht mehr geregnet. Die meisten Brunnen waren ausgetrocknet. Es gab nur noch sehr wenige Plätze, an denen man Wasser finden konnte, und die wurden eifersüchtig bewacht. Selim behauptete, ohne Erlaubnis an einem fremden Brunnen zu trinken, könne den Tod bedeuten. Deshalb bewegten sie sich nur noch zur Zeit der größten Mittagshitze oder in der Dunkelheit. Dann war die Gefahr am geringsten, auf andere Hirten zu stoßen.
Lupo blickte zum wolkenlosen Himmel. Ein großer dunkler Vogel kreiste ein wenig abseits über den Felsen.
Selim deutete auf den Schatten am Himmel. »Ziege von Berg fallen. Geier warten, bis tot.«
Der Falkner nickte. Die Hitze erschöpfte ihn. Gestern war er zum ersten Mal in seinem Leben auf seinem Pferd eingeschlafen. Selim hatte ihn ausgelacht. Der
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