Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Stoff hervor, der offenbar zu einem Gewand gehörte, das sich unter den Leichentüchern verbarg. Dazu war ein purpurner Mantel über den Toten gebreitet. Es konnte keinen Zweifel mehr geben, dass sie den dritten König gefunden hatten!
Selbst Anno lächelte. »Wir haben es wirklich geschafft. Vielleicht taugt es doch zu etwas, in Büchern zu lesen …«
»Verteilen wir das Fell des Bären nicht, bevor wir ihn erlegt haben«, bemerkte Zenon. »Es ist noch ein langer Weg bis nach Italien.« Er schob die Arme unter den Körper des Toten und hob ihn vorsichtig an. »Leicht genug, um von einem Priester getragen zu werden.« Er schaute die anderen mit sanftem Spott im Blick an. »Leicht und sehr zerbrechlich. Wir sollten uns gut überlegen, wie wir den Heiligen transportieren. Am besten, wir schlagen den Leichnam in alle verfügbaren Decken und Mäntel ein, um ihn auf der Reise vor Stößen zu schützen.«
Heinrich jagte Zenons nüchterner Tonfall einen Schauer über den Rücken. Nach dem wahren Kreuz waren die Heiligen Drei Könige der kostbarste Schatz der Christenheit!
»Was machen wir mit dem anderen?« Anno deutete zu der zweiten Nische. »Ich bin dafür, ihn mitzunehmen. Natürlich nur, wenn es ein Mann ist. Falls unserem Heiligen etwas passiert, hätten wir noch einen zweiten.«
Heinrich stockte der Atem. Es schien ganz so, als wollten sich der Sennberger und der Mönch in ihren ketzerischen Reden gegenseitig überbieten. Misstrauisch blickte er zu Ludwig. Doch der Ritter wirkte immer noch seltsam entrückt und wie in einem tiefen Gebet gefangen.
»Gehst du zum Lager zurück, um Decken und Lederschnüre zu holen, Heinrich, und …« Zenon hielt inne. Er kniete nieder und legte den Leichnam, den er noch immer auf den Armen hielt, vorsichtig zu Boden.
»Was hast du?«
»Siehst du das da nicht?« Der Mönch deutete auf einige
Striche und Flecke in der Nische. Sie waren durch den Heiligen verdeckt gewesen.
Der Ritter warf einen argwöhnischen Blick in die Grabnische. »Was soll damit sein?«
Zenon hatte eine Fackel geholt und beugte sich über den geglätteten Fels. »Das sind Schriftzeichen. Es ist Hebräisch. Man hat es wohl mit einem Stück Holzkohle geschrieben. Die Zeichen sind undeutlich. Einige auch verwischt. Vielleicht kann ich sie noch entziffern.«
Heinrich musterte die angeblichen Schriftzeichen. Für ihn waren das nur unleserliche Schnörkel. Krumme Linien ohne jede Bedeutung.
»Der zweite Leichnam ist auch kein Weibsbild«, ertönte Annos Stimme von der anderen Nische. »Wie es scheint, haben wir heute zum ersten Mal auf unserer Reise einen Glückstag!«
Heinrich rang um Fassung. Es war wirklich das Beste, wenn er hinaufkletterte und Decken aus dem Lager am Fuß des Berges holte. Waren denn alle um ihn herum verrückt geworden? Er hatte sich die Entdeckung des Königs ganz anders vorgestellt. Feierlich und erhaben! Zenon hätte eine Messe halten können, und dann hätten alle gemeinsam ein Te Deum gesungen. Unwillkürlich musste Heinrich an Mailand denken. Auch in Mailand hatten sie die Könige heimlich, beinahe wie gewöhnliche Grabräuber, aus der Krypta geholt. Für eine festliche Zeremonie war keine Zeit gewesen. Stattdessen hatte der Erzbischof einen Priester getötet. Man konnte glauben, auf den Königen läge ein Fluch!
Vorsichtig zogen sie den zweiten Leichnam durch den Öffnungsschacht der Zisterne. Er war dick in Decken eingehüllt.
Sie hatten die Toten schneller geborgen, als Anno zu hoffen gewagt hätte. Es war noch nicht einmal Mittag. Vielleicht würden sie heute noch ein Stück weit nach Norden reiten können. Anno wäre froh, diesen verdammten Berg endlich zu verlassen.
Heinrich und Ludwig nahmen schweigend den Leichnam auf und trugen ihn zum Lager weiter unten am Berg. Angespannt musterte der Sennberger den Horizont. Noch in Bethlehem hatten sie gehört, dass König Amalrich einen bedeutenden Sieg über die Sarazenen errungen haben sollte. Doch zwei Tage später hatten sie in der Ferne die Rauchwolke gesehen. Er war nicht überzeugt, dass es wirklich eine gute Idee war, durch das umkämpfte Galiläa zu reisen. Gewiss, unter Flüchtlingen und Soldaten würden sie nicht sonderlich auffallen, aber was geschah, wenn sich das Kriegsglück des Königs von Jerusalem plötzlich wendete?
Anno kniete nieder und blickte in den Schacht. Von Zenon war nichts zu sehen. Der Mönch kauerte offenbar noch immer über den merkwürdigen Schriftzeichen und versuchte, sie zu entziffern.
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