Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
Dabei gab es wirklich keinen Grund mehr, sich länger als nötig an diesem Ort aufzuhalten. Wenn Anno ehrlich zu sich war, dann waren ihm die Grabkammer und die Leichname unheimlich. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause zurückkehrten. Er würde endlich Clara wiedersehen und dafür sorgen, dass sie einen Mann von Stand heiratete. Aber auf keinen Fall Heinrich, diesen Wirrkopf, der von Keuschheit, Ritterorden und Mönchsgelübde redete und gleichzeitig Clara den Kopf verdreht hatte. Heinrich würde es nie zu etwas bringen, er war bei allen guten Eigenschaften, die er auch besaß, im Grunde ein armer Taugenichts.
»Heinrich!« Dunkel drang Zenons Stimme aus dem Schacht herauf.
Anno blickte über den Rand der Zisterne hinab. Der Mönch stand unten und winkte aufgeregt. Dann, als er Anno statt Heinrich über sich entdeckte, begann er das Seil hochzuklettern.
»Wir müssen … den König … zurückbringen«, keuchte der Mönch. Die Anstrengung ließ ihm kaum genug Luft, um zu sprechen. Hand über Hand zog er sich am Seil hoch.
»Es ist … der Falsche!«
Der Falsche! Anno wurde es schwindelig. Nach all den Strapazen!
»Wir müssen die Suche … ganz von Neuem … beginnen! Helena hat sich … geirrt. Die Inschrift! … Es ist …«
Der Mönch hatte fast den Rand des Ausstiegs erreicht. Anno hätte ihm jetzt die Hand reichen können, doch stattdessen glitt seine Rechte zum Gürtel. Es geschah, ohne dass er überlegte. Mit einer schnellen Bewegung ergriff er das Messer und durchtrennte das Seil. Der Mönch stürzte mit einem Schrei auf den Lippen, der mehr Überraschung als Entsetzen verriet, in die Tiefe der Zisterne.
Hastig blickte Anno sich um. Er war allein auf dem Bergplateau. Die anderen waren noch nicht vom Lager zurückgekehrt. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Vorsichtig beugte er sich über die Schachtöffnung. Zenon hatte seine Fackel zwischen Bruchsteinen verkantet, die er von der eingeschlagenen Mauer herbeigeholt haben musste. Ihr Licht fiel auf den Hinterkopf des Mönchs. Er war mit dem Gesicht voran auf den Felsgrund der Zisterne geschlagen!
Einige Augenblicke betrachtete Anno den Mönch. Zenon rührte sich nicht mehr. Niemand konnte solch einen
Sturz überleben. Aber das Seil würde ihn verraten. Es war zwar an einigen Stellen ziemlich abgenutzt, doch war der glatte Schnitt deutlich zu erkennen. Hastig begann Anno das Seil mit dem Dolch zu bearbeiten, um es unregelmäßig und ausgefranst aussehen zu lassen. Dann schob er die Klinge in die Scheide zurück und lief den Hang hinab, um den anderen von dem tragischen Unglücksfall zu berichten.
Erschüttert deckte Heinrich ein Tuch über Zenons Gesicht. Die Züge des Mönchs waren entsetzlich entstellt. Selbst seine Hände waren zerschmettert.
»Sollen wir ihn hinaufschaffen und in den Ruinen begraben?«, fragte Ludwig zögernd.
Heinrich schüttelte stumm den Kopf. Ihr Unglück schien kein Ende zu nehmen. Dass ausgerechnet Zenon ums Leben gekommen war, der so überlegt und unnahbar gewesen war! Sein Tod bewegte Heinrich tief. Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten, hatte er den Mönch gemocht. Er hätte ihm sagen sollen, dass er ihm seine Vergangenheit vergeben hatte. Den gescheiterten Anschlag auf den Kaiser. Zenon hatte ihn nicht belogen! Jetzt, im Tod, war seine Kutte hochgerutscht, und deutlich sah man die gräßlichen Narben auf den Beinen. Es war, als habe Gott selbst entschieden, in diesem Augenblick alle Zweifel zu zerstreuen. Zu spät, sich noch zu entschuldigen. Zenon hatte Recht gehabt, als er ihn zu nachtragend genannt hatte.
Eine schwere Hand legte sich auf Heinrichs Schulter. »Wir sollten gehen. Es ist nichts mehr für ihn zu tun«, sagte Anno. Die Stimme des Sennbergers hatte nie so ergriffen geklungen.
»Ja.« Heinrich nickte. Er spürte, dass seine Stimme zitterte.
»Ich möchte nur noch einen Moment Abschied nehmen.«
Anno gab Ludwig ein Zeichen, und die beiden gingen zu dem neuen Seil hinüber und machten sich daran, hinaufzuklettern.
Den Leichnam Zenons hatten sie neben eine der Säulen gebettet. Heinrich kniete vor ihm nieder.
»Warum hast du ihn zu dir genommen, Herr«, flüsterte er. »Weil er dein Wort auf so eigenwillige Weise in die Welt getragen hat? Weil er mehr Zweifel säte als Glauben?« Heinrich betrachtete seine Hände. Sie waren dunkel vom Blut des Mönchs. Voller Reue erinnerte er sich an den Sonnenaufgang in dem verborgenen Garten hoch über dem Katharinenkloster. Damals hatte sein Freund ihm das
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