Könige der ersten Nacht - Hennen, B: Könige der ersten Nacht
es auch zum Weihnachtsfeste gewesen. Die ersten fünf Reihen der Kirchbänke waren mit Mönchen und Nonnen gefüllt. Die Mönche links, die Nonnen rechts. Er hatte in der dritten Reihe am Mittelgang gesessen. Ludwig konnte sich an alles noch so genau erinnern, als sei es erst gestern gewesen. Sein Blick war zu den Nonnen auf der anderen Seite geschweift. Andere konnten Frieden im Chorgesang
und im Gebet finden. Warum war ihm das nie vergönnt gewesen?
Dort auf der anderen Seite des Mittelgangs hatte sie gesessen. So nah, dass er sie fast hätte berühren können. Sie war recht klein, und trotz der Ordenstracht konnte man erkennen, dass sie von zierlicher Gestalt war. Ihr Gesicht war unter der Haube nicht zu sehen gewesen, bis sie merkte, dass sie beobachtet wurde, und zu ihm hinüberblickte. Die traurigen Augen weiteten sich vor Schreck, als sie ihn erkannte. Es war seine Stiefschwester. Er hatte Mechthild gefunden, nun, da er sie nicht mehr gesucht hatte. Zum ersten Mal seit Jahren wagte er nicht nur an Mechthild zu denken, sondern auch ihren Namen zu flüstern.
Als sie die Kirche verließen, hatte sie es vermieden, sich ihm zu nähern. Nicht ein Wort hatten sie miteinander wechseln können. Fortan fieberte Ludwig den gemeinsamen Messen entgegen. Das Leben im Kloster wurde ihm erträglicher, obwohl ihm zu sprechen verboten war. Ihm, dem Sänger, der mit seinen Liedern so viele zu betören verstanden hatte. Allein im Chor mitzusingen und zu beichten war ihm erlaubt. All dies ertrug er in der Freude, bald Mechthild wiederzusehen. Doch ihr gelang es stets, ihm nicht nur aus dem Weg zu gehen, sondern auch jeden Blick zu meiden. Es schien, als wäre er durch Zauberwerk für sie unsichtbar geworden.
Bis zum Sommer gelang es ihm, seinen Verstand gegen das zu verschließen, was sein Herz längst ahnte. Er schob es auf unglückliche Zufälle, dass sie einander nicht mehr begegneten. Allein sie in der Nähe zu wissen, machte ihm das Leben leichter. Ohne zu murren, verrichtete er auch die niedrigsten Arbeiten.
Erst zur Erntezeit, als fast alle Mönche auf den Äckern arbeiteten, geschah es, dass sie einander wiederbegegneten. Ludwig war auf einem abgelegenen Feld zurückgeblieben, um verlorene Ähren aufzulesen, als er ganz in der Nähe eine Gestalt am Waldrand bemerkte. Er erkannte sie sofort. Man hatte Mechthild zum Kräutersammeln ausgeschickt, und Gott hatte sie hierher, zu diesem einsamen Feld, geführt.
Als er zu ihr lief, wollte sie fliehen. Doch er war schneller, holte sie ein und wollte sie in die Arme schließen, so wie früher, als sie ihn grob zurückgestoßen und drohend die Sichel erhoben hatte. Sie machte ihm bittere Vorwürfe, wie lange sie auf ihn gewartet habe, und war taub für seine Beteuerungen, dass er sie Jahre gesucht hatte. Im letzten Sommer erst hatte sie den Schleier genommen und ihre Gelübde abgelegt. Voller Bitterkeit sprach sie von durchwachten Nächten, von missglückten Fluchtversuchen und davon, wie sie jedesmal, wenn sie dem Kloster entronnen war, nach ihm Ausschau gehalten hatte. Doch von seiner Geschichte hatte sie nichts hören wollen.
Die Jahre im Kloster hatten Mechthild verändert. Sie sah sich nun als eine Braut Gottes. Zuletzt warnte sie ihn eindringlich und schwor, dass sie ihm oder sich etwas antun würde, wenn er sich ihr noch einmal nähern sollte. Danach eilte sie in den Wald davon.
Bis zur Abenddämmerung hatte Ludwig am Feld gestanden, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun oder einen klaren Gedanken zu fassen. Man schickte Ordensbrüder aus, ihn zu suchen.
Am nächsten Tag war er krank. Er hielt die Gebete nicht mehr ein, verweigerte das Essen und mochte sich nicht mehr vom harten Lager in seiner Cella erheben. Es war
nicht einmal so, dass er über die Vergangenheit nachdachte. Er lag einfach nur still und starrte die Flecken auf der getünchten Mauer an, bis ihm die Augen schmerzten.
Seine Ordensbrüder kümmerten sich aufopfernd um ihn. Wochen lag er so, bis er wusste, was zu tun war. Er durfte nicht riskieren, Mechthild noch einmal zu begegnen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Drohung wahrmachen würde. Es war an ihm, seinem Leben ein Ende zu setzen. Es gab kein Ziel mehr, nur eine Schuld war noch zu begleichen. Clara. Sie hatte ihren Vater und ihren Geliebten verloren. Sie sollte wissen, was im Morgenland geschehen war. Gewiss hatte ihr niemand die Wahrheit über den Brand und den Tod ihres Vaters erzählt. Und wenn ihn die Spitzel des
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