Königin der Engel
diese, nicht wahr? Und jetzt sind wir wieder Ausgestoßene, obwohl unsere Söhne und Töchter in ihren Kriegen geblutet haben und gestorben sind, obwohl wir sie bewirten und ihnen Zuflucht vor ihren Städten und ihrer Überentwicklung geben…«
Mary lauschte dem monotonen Geschwafel und fragte sich, was an dem Mann so dynamisch war. Seine Rede schien nirgendwohin zu zielen. Jean-Claude brachte ihr einen Aperitif, den sie höflich ablehnte. »Ich bin so schon müde genug«, sagte sie.
Gnädigerweise dauerte die Ansprache nur fünfzehn Minuten. Sie gelangte zu keinem klaren Schluß, sondern verlor sich in Platitüden über die Verderbtheit der Außenwelt und die schlechte Behandlung, die sie Hispaniola fortwährend angedeihen ließ. Colonel Sir ließ Dampf ab und wahrte den Schein. Eine Botschaft war durchaus klar: Colonel Sir – und deshalb ganz Hispaniola – war wütend und verärgert über die zunehmende Ächtung.
Als die Rede zu Ende war, machte das Vid fast sofort mit einem Zeichentrickfilm über die Abenteuer eines Mannes mit einem Totenkopf in langer Hose und schwarzem Frack weiter. Mary erkannte Baron Samedi, Gege Nago, den betrügerischen Loa des Todes und der Friedhöfe.
Baron Samedi sprang in einen Fluß, um unter Wasser, sou dleau, zum Land der Toten und der Götter von Haiti zu gehen. Colonel Sir hatte sich Voodoo zunutze gemacht – wie viele andere Herrscher auf der Insel vor ihm – und dann die zahllosen Loas langsam in Comic- und Zeichentrickhelden verwandelt, um die Macht des Glaubens für jüngere Generationen zu entschärfen. Unter Wasser unterhielt sich Baron Samedi mit Erzulie, der schönen Loa der Liebe, und mit Damballa, einer regenbogenfarbenen Schlange.
Mary schaltete den Fernseher aus, zog sich ins Schlafzimmer zurück und fand dort auf dem Nachttisch einen gebundenen Band mit den Reden und Schriften von Colonel Sir. Auf der Bettkante sitzend blätterte Mary das Buch durch, nahm ihre Tafel zur Hand und rief andere Untersuchungen auf, versuchte die Schläfrigkeit zu vertreiben. Eine Karte des Golfs von Gonaïves auf ihrer Tafel hatte die Form eines weit aufgesperrten Rachens, der darauf wartete, die Insel Gonaïve und alles andere, was ihm zu nahe kam, zu verschlingen.
Nachdem sie eine Stunde lang gelesen und gewartet hatte, ging sie in die Küche und fand dort Roselle, die dasaß und schweigend strickte. Roselle schaute auf. Ihr Blick war warm und herzlich. »Ja, Mademoiselle?«
»Die Maschine mit meinen Freunde hätte inzwischen ankommen müssen.«
»Jean-Claude hat sich vor ein paar Minuten nach ihnen erkundigt. Er hat gesagt, die Flugzeuge haben Verspätung.«
»Hat er auch gesagt, warum?«
»Das kommt oft vor, Mademoiselle. Unsere Bürgerarmee führt abends auf einem Flughafen ein Manöver durch, ein anderer Flughafen muß ausgesucht werden, und die Maschinen kommen später an. Aber er hat nicht gesagt, warum. Ist sonst noch etwas?«
Mary schüttelte den Kopf, und Roselle begann wieder zu stricken.
Als sie im Schlafzimmer unter dem Gazebaldachin lag, war sie viel zu deplaziert, um sich deplaziert zu fühlen. Sie betrachtete ihre Hände, die eher wie die Hände eines Mannequins aussahen als wie die vitalen schwarzen Hände von Roselle. Marys Handflächen waren schwarz, glatt und seidig, zäh wie Leder, aber dennoch nachgiebig und flexibel, auf Befehl auch hypersensibel; ausgezeichnete High-Biotech-Haut. Weshalb schämte sie sich dann vage, hier mit einer solchen Haut herumzulaufen? Weder Jean-Claude noch Roselle schienen es für ein Possenspiel zu halten, aber sie verfügten über eine professionelle Höflichkeit, und was sie wirklich dachten, würde vielleicht nie ans Licht kommen.
Die Bewohner von Hispaniola hatten sich ihre Schwärze in Jahrhunderten des Elends verdient. Dagegen waren Marys Verluste – Freunde, Familie und große Teile ihrer Vergangenheit – nicht der Rede wert. Sie nahm Colonel Sirs Buch wieder zur Hand und begann mit einem langen Aufsatz über die Geschichte Haitis und der ehemaligen Dominikanischen Republik.
Das Aufkommen der Nano-Therapie – der Einsatz winziger chirurgischer Proschinen, um neuronale Pfade zu ändern und im wahrsten Sinne des Wortes Gehirnrestrukturierung zu betreiben – bot uns die Gelegenheit, die Landschaft des Geistes umfassend zu erforschen. Ich konnte keine Methode finden, etwas über den Zustand der individuellen Neuronen im hypothalamischen Komplex zu erfahren, ohne direkte Eingriffe vorzunehmen, z.B. mittels Sonden,
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