Königin der Engel
Sauberkeit. So früh war praktisch noch kein Tourist am Strand. Ein paar junge Haitianer in den zivilen Uniformen der Stadtreinigung schwenkten simple Metalldetektoren über den Sand. Soulavier kaufte von einem einsamen Straßenhändler zwei gebratene Pampanos und zwei Bier und breitete dieses Festessen auf einer Decke im Sand aus. Mary saß mit gekreuzten Beinen da, aß den leckeren Fisch und trank das einheimische Gebräu. Bier schmeckte ihr meistens nicht, aber das hier war ganz annehmbar.
Soulavier bedachte die Müllsucher und ihre Detektoren mit einem freundlichen Stirnrunzeln. »Es ist schwer, alte Gewohnheiten abzulegen«, sagte er. »Die Hispaniolaner sind sehr wirtschaftlich und sparsam. Uns steckt noch die Erinnerung an die Zeit in den Knochen, als jedes Stück Schrott und jede Aluminiumdose ein Schatz waren. Diese Jungen und Mädchen und ihre Mütter und Väter haben Arbeit. Vielleicht arbeiten sie in den Hotels oder in den Kasinos. Vielleicht haben sie einen Papa oder eine Mama beim Militär. Vielleicht sind sie selbst in der militärischen Ausbildung. Trotzdem sind sie sparsam und verstehen hauszuhalten.«
»Es hat sich vieles verändert«, sagte Mary.
»Er hat so viel für uns getan. Wegen ihm gibt es heutzutage nur wenig Vorurteile auf Hispaniola. Das ist ein wahres Wunder. Marrons verspüren keinen Haß auf griffons, [iv] auf noirs oder les blancs. Alle sind gleich. Mein Vater hat mir einmal erzählt, daß es vierzig verschiedene amtlich anerkannte Hautfarben gab.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Colonel Sir wirkt Wunder, Mademoiselle. Wir wissen nicht, warum die Welt ihn haßt.«
Mary hatte ihre instinktive Sympathie für Soulavier gut verpackt und schnell irgendwo verstaut, als sie herausfand, was sein eigentlicher Beruf war, aber sie hatte sie nicht abgelegt. Er kam ihr immer noch ehrlich und natürlich vor.
»Ich bin nicht sehr gut über die internationale Politik informiert«, sagte sie. »Ich konzentriere mich ganz auf Los Angeles. Das ist Welt genug für mich.«
»Es ist eine großartige Stadt. Menschen aus aller Welt leben dort, gehen dorthin. Fünfundzwanzig Millionen! Das sind mehr als auf ganz Hispaniola. Wir hätten mehr, wenn die Seuche nicht gewesen wäre.«
Mary nickte. »Wir beneiden euch um eure Verbrechensrate.«
»Stimmt, sie ist sehr niedrig. Die Hispaniolaner haben schon immer zu teilen gewußt. Wenn man so lange nichts hat, wird man großzügig.«
Mary lächelte. »Ein Hispaniolaner vielleicht.«
»Ja, ich verstehe, ich verstehe.« Soulavier lachte. Jede seiner Bewegungen war wie ein Tanz; sein gesamter Körper beugte und streckte sich anmutig, selbst wenn er mit einem halb aufgegessenen Fisch in der Hand dasaß. »Wir sind ein gutes Volk. Mein Volk hat so vieles so lange entbehrt. Sie sehen, warum es hier Loyalität gibt. Aber warum gibt es draußen Mißtrauen und Haß?«
Er versuchte, sie aus der Reserve zu locken. Die Unterhaltung konnte letztlich doch alles andere als unschuldig sein.
»Wie gesagt, ich bin nicht so auf dem laufenden, was die Außenpolitik betrifft.«
»Dann erzählen Sie mir von Los Angeles. Ich habe ein bißchen was darüber gelernt. Eines Tages werde ich vielleicht hingehen, aber Hispaniolaner reisen nur selten.«
»Es ist eine sehr komplizierte Stadt«, sagte sie. »Man kann nahezu alles Menschliche in Los Angeles finden, das Gute wie das Böse. Ich glaube nicht, daß die Stadt ohne mentale Therapie funktionsfähig wäre.«
»Ah ja, Therapie. So etwas gibt es hier nicht. Wir betrachten unsere Exzentriker als Pferde der Götter. Wir geben ihnen zu essen und zu trinken und behandeln sie gut. Sie sind nicht krank; nur besessen.«
Mary legte zweifelnd den Kopf schief. »Wir kennen sehr viele mentale Funktionsstörungen. Wir haben die Mittel, sie zu beheben. Ein klarer Verstand ist der Weg zu einem freien Willen.«
»Sind Sie therapiert worden?«
»Bei mir war das nicht nötig«, sagte sie. »Aber ich hätte nichts dagegen, wenn es sein müßte.«
»Wieviele Therapierte gibt es in Los Angeles?«
»Rund fünfundsechzig Prozent haben irgendeine Form der Therapie gemacht, wie unbedeutend sie auch sein mag. Manche Therapien helfen, die Leistung bei schwierigen Jobs zu steigern. Sozial orientierte Therapien helfen den Leuten, besser zusammenzuarbeiten.«
»Und Verbrecher? Werden die therapiert?«
»Ja«, sagte sie. »Je nach der Schwere ihres Verbrechens.«
»Mörder?«
»Soweit möglich. Ich bin kein Therapeut und kein Psychologe. Ich
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