Königin der Engel
kenne mich da nicht so genau aus.«
»Was macht ihr mit Kriminellen, die nicht therapiert werden können?«
»Das kommt sehr selten vor. Sie werden in Anstalten festgehalten, wo sie anderen keinen Schaden zufügen können.«
»Sind diese Anstalten auch für Strafzwecke gedacht?«
»Nein«, sagte Mary.
»Wir glauben hier an die Strafe. Glaubt ihr in den Vereinigten Staaten an die Strafe?«
Mary wußte nicht, wie sie das beantworten sollte. »Ich glaube nicht an die Strafe«, sagte sie und fragte sich, ob das die ganze Wahrheit war. »Sie scheint nicht so viel zu bringen.«
»Aber es gibt viele in Ihrem Land, die es tun. Ihr Präsident Raphkind.«
»Der ist tot«, sagte Mary.
Sie merkte, daß Soulavier einiges von seiner Anmut und seiner Beweglichkeit eingebüßt hatte und dafür strenger und konzentrierter geworden war. Er zielte auf etwas Bestimmtes ab, und sie war nicht sicher, ob es ihr gefallen würde.
»Jeder Mann und jede Frau ist verantwortlich für ihr Leben. Auf Hispaniola, besonders in Haiti, sind wir sehr tolerant in bezug auf das, was die Menschen tun. Aber wenn sie böse sind, wenn sie die Pferde böser Götter werden – und das ist eine Metapher, Mademoiselle Choy…« Er hielt inne. »Voodoo ist nicht mehr sehr verbreitet. Nicht in meiner Generation. Aber es gibt den Glauben, und es gibt die Kultur… Wenn sie die Pferde böser Götter werden, ist es auch die Schuld des einzelnen. Man tut ihm einen Gefallen, wenn man ihn bestraft. Man schärft die Wachsamkeit seiner Seele gegenüber dem Fehlverhalten.«
»Das klingt wie die spanische Inquisition«, sagte sie.
Soulavier zuckte die Achseln. »Colonel Sir ist kein grausamer Mensch. Er erlegt seinem Volk keine Strafen auf. Er läßt es in seinen eigenen Gerichtshöfen entscheiden. Wir haben ein gerechtes System, aber Strafe – nicht Therapie – gehört dazu. Man kann die Seele eines Menschen nicht ändern. Das ist eine Illusion der Weißen. Vielleicht habt ihr in den Vereinigten Staaten die Wahrheit über diese Dinge aus den Augen verloren.«
Mary widersprach ihm nicht. Soulaviers Strenge wich, und er lächelte breit. »Ich unterhalte mich gern mit Leuten von außerhalb.« Er faßte sich an den Kopf. »Manchmal gewöhnen wir uns zu sehr an den Ort, an dem wir leben.« Er stand auf, wischte sich Sandkörner von seiner schwarzen Hose und schaute über die Uferpromenade hinweg zur Polizeistation. »Vielleicht ist der Generalinspektor jetzt bereit.«
Ein Schädel mehr auf dem Haufen
Könnte den ganzen Berg einstürzen lassen…
– Text eines populären Liedes
42
»Heute nacht hast du nicht geschlafen«, sagte Nadine. Ihr versehwollenes Gesicht war verdrossen; es zeugte von ihrem eigenen Schlafmangel und ließ erkennen, daß sie langsam an ihre Grenzen kam. + Muß anstrengend sein sich um jemanden zu kümmern der sich ausgeflippt benimmt wenn das die Lebensweise ist für die man sich selbst entschieden hat.
Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Schlafzimmersessel, das hauchdünne Nachthemd über die Knie hochgezogen. »Ich mache heute kein Frühstück. Gestern hast du mein Abendessen nicht angerührt.«
Richard lag auf dem Bett und verfolgte mit den Augen einen alten Erdbebenriß, der durch den Putz an der Decke lief. »Ich hab geträumt, daß er nach Hispaniola geflohen ist«, sagte er beiläufig.
»Wer, Goldsmith?«
»Ich hab geträumt, daß er jetzt dort ist und daß sie ihn unter eine Klammer setzen.«
»Warum sollten sie das tun, wenn Colonel Sir sein Freund ist? Das wäre ja schrecklich.« Nadine rutschte unruhig auf dem Sessel herum. »Aber man kann nie wissen.«
»Ich bin mit ihm verbunden«, sagte Richard. »Ich weiß es.«
»Das kannst du nicht wissen«, erwiderte sie sanft.
»Eine mystische Verbindung.« Er sah sie durchdringend an, ohne Feindseligkeit. »Ich weiß, was er tut. Ich fühle es.«
»Das ist doch Unsinn«, sagte sie noch sanfter.
Er richtete den Blick wieder an die Decke. »Er würde uns nicht einfach grundlos verlassen.«
»Richard… Er versteckt sich vor den PDs.«
Richard schüttelte den Kopf. Er war anderer Meinung. »Er ist dort, wo er immer sein wollte, aber sie haben ein paar Überraschungen für ihn auf Lager. Er hat manchmal von Guinée gesprochen.«
»Wo die Hühner herkommen.« Nadine lachte.
»Es war ein Traumafrika. Er dachte, Yardley würde das beste Fleckchen auf der Erde schaffen. Er hielt die Hispaniolaner für das beste Volk der Welt. Er sagte, sie seien nett und
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