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Königin der Engel

Königin der Engel

Titel: Königin der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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diesem >Jahr der Großen Vision< waren hart gewesen. Colonel Sir hatte vier Konterrevolutionen abgewehrt, drei dominikanische und eine haitianische; in der zweiten hatte er seinen besten Freund verloren, den Geologen Rupert Henshaw. Vor seinem Tod hatte Henshaw mitgeholfen, die alten Kupfer- und Goldminen wieder in Betrieb zu nehmen und neue zu finden; er hatte auch die Geheimnisse ausgedehnter Ölreserven aufgedeckt, deren Ausbeutung zuvor als zu riskant betrachtet worden war. In jener Zeit, an der Schwelle der Nano-Durchbrüche, war Petroleum noch ein unverzichtbarer Rohstoff gewesen, der nicht verbrannt, sondern in Tausende von Nebenprodukten verwandelt wurde. Henshaw hatte Colonel Sir gute Dienste geleistet.
    Die meisten Dokumente der Insel aus jenen Jahren waren für die breite Öffentlichkeit und die Historiker der Welt nicht zugänglich. Die Konsolidierungsphase hatte geringstenfalls Tausenden das Leben gekostet. Colonel Sir war aus ihr mit einem Ruf extremer Erbarmungslosigkeit in der Tradition Dutzender früherer Herrscher der beiden Nationen von Hispaniola hervorgangen. Anders als diese Herrscher hatte er sich jedoch auch als außerordentlich fähig und selbstlos erwiesen, sobald er seine Machtposition gefestigt hatte.
    Colonel Sir interessierte sich nicht für persönlichen Reichtum. Er hatte eine Vision, und die setzte er mit Scharfblick und schließlich – in bezug auf die Hispaniolaner – sogar mit Sanftmut in die Tat um, ohne weitere Repressalien gegen Opponenten oder Feinde zu ergreifen; er gestattete ihnen stets, in ein gut gepolstertes Exil zu gehen. Unter Colonel Sirs kontroversem Rechtssystem hatte Hispaniola im Jahr 2025 die niedrigste Verbrechensrate aller Länder mit gleicher Bevölkerungsdichte und gleichem Einkommensniveau in der Welt.
    Colonel Sir hatte den Zyklus der Grausamkeit auf der Insel durchbrochen. Drei Jahrhunderte lang hatte dieser Zyklus, dieser Fluch seine Macht ausgeübt; diese Macht konnte nicht geleugnet, sondern nur in neue Kanäle geleitet werden, und Colonel Sir hatte sie nach außen gerichtet, hatte sie von der Insel exportiert.
    Die Citadelle des Oncs, die Zitadelle der Onkel – das Polizeihauptquartier –, war weniger festungsähnlich als manche der Geschäftshäuser und öffentlichen Gebäude der Stadt. Sie lag in der Nähe der Bucht. Vier lange, rote Ziegelbauten bildeten ein Rechteck mit Verbindungswegen aus Holz und Stein. Der Hof in der Mitte war mit gepflegtem, weichem Gras bedeckt. Im Zentrum des Hofs erhob sich ein großer, verkrümmter Baum mit höckerigen Wurzeln, dessen Fuß mit Bougainvilleen und rotem Jasmin geschmückt war.
    »Das ist ein Baobab«, sagte Soulavier und zeigte stolz auf den Baum. »Aus Guinée. Colonel Sir hat ihn aus Kenia geholt, um uns an unsere wahre Heimat zu erinnern. Mein Vater hat mir erzählt, daß er von einer Loa bewohnt ist, die über diesen ganzen Staat wacht; sie heißt Manna Jacques-Nanci. Wenn es Manna Jacques-Nanci danach zumute ist, reitet sie Colonel Sir wie ein Pferd. Aber ich habe das nie gesehen, und es ist höchst ungewöhnlich, daß ein Loa von einem Weißen – selbst von Colonel Sir – derart Besitz ergreift.«
    Mary bemühte sich, aus Soulaviers Benehmen schlau zu werden und herauszufinden, was er glaubte und was er nur als Fabel erzählte, aber es gelang ihr nicht. Er war ein Mann, dem man beigebracht hatte, clever zu sein und alles Wichtige zu verbergen, jemand, der die Fallstricke und Schlingen des politischen Lebens kannte wie ein Zauberer Zeichen und Symbole. Seine Stimme klang ehrlich; sie konnte aber nicht glauben, daß er ehrlich war. Wie erfolgreich (oder ehrlich) waren Colonel Sirs Anti-Voodoo-Kampagnen gewesen?
    Soulavier verhielt sich wie ein besorgter Bruder, während er redete. Über sein Gesicht ging ein Strom von Emotionen, rasch und offen, wie bei einem Kind. »Die Noncs«, sagte er, »die Oncs, wie wir sie auch nennen – die Onkel –, sie sind keine schlechten Menschen, aber sie müssen ihre Arbeit tun, und die ist manchmal sehr schwierig. Lassen Sie sich von ihnen nicht erschrecken. Sie sind stolz, gutaussehend und mit Eifer bei der Arbeit. Viele haben in ihrer Jugend auf Colonel Sirs Seite gekämpft; sie sind seine Brüder.«
    »Wissen Sie, wer mein Gesprächspartner sein wird?« fragte sie.
    »Alejandro Legar, Generalinspektor von Hispaniola des Caraïbes, Bundesstaat Haiti Süd. Seine beiden Assistenten – Aide Ti Francine Lopez und ich selbst – werden ebenfalls dabeisein.«
    Mary

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