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Königin der Engel

Königin der Engel

Titel: Königin der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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hinüber.
    »Sie ist ein Gast von Colonel Sir«, sagte Soulavier. »Ein sehr privilegierter Gast.«
    »Ist sie eine Freundin von dir, Henri?«
    Soulavier zögerte kaum merklich und warf Mary einen raschen Blick zu, bevor er antwortete. »Ja. Sie ist mein Gewissen.«
    Der pret’ savan betrachtete Mary mit mehr Respekt und einiger Ehrfurcht.
    »Können wir heute nacht hierbleiben?« fragte Soulavier.
    »Diese Kirche steht den Kindern von Terrier Noir immer offen. So haben es Jesus und Erzulie gewollt, so hat sie John D’Arqueville gebaut.«
    »Hast du etwas zu essen?« erkundigte sich Soulavier. Seine Schultern lockerten sich, und sein Gesicht verlor seine angespannte Starre. »In Tausend Blumen waren sie nicht sehr gastfreundlich.«
    Der pret’ savan stellte den Kopf schief und schloß die Augen, als würde er beten. »Wir haben etwas zu essen«, sagte er. »Soll ich den Houngenicon oder den Houngan holen?«
    »Nein«, sagte Soulavier. »Morgen sind wir wieder weg. Hast du ein Radio?«
    »Natürlich.« Der pret’ savan lächelte. »Ich werde etwas zu essen und feuchte Handtücher bringen, um diesen Mann zu reinigen. Er ist durch die Hölle gegangen, nicht wahr?«
    Soulavier neigte den Kopf.
    »Das erkenne ich immer«, sagte der pret’ savan. »Sie haben diesen Ausdruck im Gesicht, wie unser Jesus.« Er zeigte auf die dunkle, verkrümmte Gestalt am Kreuz. Mit einem letzten langen Blick auf Mary ging der kleine Mann in der grünen Robe hinaus, um etwas zu essen zu besorgen.
    Mary setzte sich neben den Häftling, nahm seinen Kopf auf den Schoß und betrachtete sein verschlossenes, rätselhaftes Gesicht. Sie fragte sich, ob er immer noch litte, obwohl er vor so vielen Stunden unter der Höllenkrone herausgeholt worden war. Er war noch nicht vollständig aufgewacht – würde er genauso schreien wie die anderen? Hoffentlich nicht.
    »Er braucht einen Arzt, einen Therapeuten«, murmelte sie. Sie schwankte am Rand eines Abgrunds entlang, von dem sie auch noch so viel Disziplin nicht zurückhalten konnte. Ohne nachzudenken, streichelte sie dem Häftling die Stirn, streckte dann den Hals, um ihre Muskeln zu entspannen, und schaute erneut zum Deckengewölbe hinauf. »Was sind das für Figuren?« Sie zeigte auf die Gestalten, die dort aufgehängt waren.
    »Erzengel. Loas des Neuen Pantheons«, sagte Soulavier. »Ich bin als kleiner Junge in diese Kirche gegangen, als sie noch neu war. John D’Arqueville wollte die besten Elemente der afrikanischen Religionen und des katholischen Christentums wiedervereinigen. Er wollte dem Voodoo eine neue Form geben. Seine Vision hat sich aber nicht weit über Terrier Noir hinaus verbreitet. Diese Kirche ist einzigartig.«
    »Haben sie Namen?« fragte Mary.
    Soulavier schaute nach oben und kniff die Augen zusammen, als ob er tief in seinen Kindheitserinnerungen graben würde. »Der große mit dem schwarzen Schwert und der Federfackel, das ist Asambo-Oriel. Der erste Teil des Namens bedeutet nichts, glaube ich; D’Arqueville hat ihre Namen im Traum gehört. Asambo-Oriel hat die Schwarzen über die Seelenküste aus Guinée gejagt. Er ist der Loa mit Fackel und Schwert, wie der Erzengel Uriel. Der mit der Trommel und den Vogelknochen, das ist Rohar-Israfel, der Loa der heiligen Musik und der Gesänge. Daneben ist Ti-Gabriel, der allen Loas ein Ende machen will… Der kleinste von ihnen, und der mächtigste. Samedi-Azrael, der eitelste, ruft uns in unsere Gräber und bedeckt uns mit heiliger Erde. Und andere. Ich kenne sie nicht mehr alle.« Er schüttelte den Kopf, erfüllt von traurigen Erinnerungen. »So eine schöne Vision, und nur so wenige glauben daran. Nur die Leute in Terrier Noir.«
    Mary hätte gern gewußt, was die anderen Figuren darstellten. Elf an der Zahl, füllten sie das Gewölbe wie dicht an dicht stehende Busfahrgäste; Flügel stießen an ausgestreckte Arme, gesichtslose Köpfe beugten sich über die Kirchenbänke, mit Bändern und Spinnweben bekränzt. Zum erstenmal fiel ihr jedoch auf, daß es in dem dunklen Alkoven über der bogenförmigen Eingangstür noch eine kleinere weibliche Figur gab, die nur knapp drei Meter groß und in Gewänder aus schattigem Gold, Rot und Kupfer gekleidet war. An ihren dünnen, anmutigen Armen und der erhobenen Hand waren Dutzende von Armreifen und Ringen zu sehen. Hinter ihrem Kopf hing eine Sonnenscheibe aus Goldfolie, die gewellte Strahlendolche aussandte. Der Lichtschein der Kerzen unten spiegelte sich matt in der Sonnenscheibe und den

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