Königin der Engel
einst ein Fluß gewesen war, wie Bündel opaker Kristalle im Sternenlicht.
Auf einer Insel am nördlichen Ende der Stadt erhob sich eine prunkvolle Kirche mit vier Türmen, die von einem begabten Kind aus Stücken riesiger Knochen zusammengesetzt worden zu sein schien, und teilte den Strom des Aquädukts wie eine Miniaturausgabe von Notre Dame de Paris.
Es waren keine Straßenlaternen zu sehen; alle Fenster waren verrammelt. Die Limousine fuhr auf den Marktplatz der Stadt und machte bei der Statue in dessen Zentrum halt. Mary erkannte mit einiger Überraschung, daß die Statue nicht Yardley darstellte, sondern einen stattlichen Mann, der einen breitrandigen Hut mit einem viereckigen Kopf trug. »John D’Arqueville«, erklärte Soulavier, der ihr Interesse bemerkte. »Er war der beste Sohn von Terrier Noir, ein Künstler und Architekt. Wir werden heute nacht in seiner Kirche bleiben. Ich kenne den prêt’ savan.«
Die Limousine überquerte den Platz, fuhr in einer engen Straße zwischen Reihen dunkler Häuser hindurch und über eine kurze Brücke auf die tränenförmige Insel mit der Kirche. Soulavier stieg aus und klopfte mit einem schweren, weißlackierten Türklopfer von der Form eines Oberschenkelknochens an die hohen Bogentüren. Neben Mary regte sich Ephraim Ybarra; er schlug die Augen auf und starrte sie in hilflosem Entsetzen an. Sein Körper versteifte sich einen Moment lang, dann entspannte er sich und schloß die Augen wieder.
Sie schaute aus dem Fenster und sah Soulavier mit einem kleinen Mann in einer grünen Robe reden. Der Mann schaute zur Limousine herüber, nickte und öffnete die Türen weit, so daß der sepiafarbene Lichtschein des von Kerzen beleuchteten Kirchenschiffs herausfiel.
»Ich nehme seinen Kopf und seine Schultern, Sie seine Füße«, sagte Soulavier. Er machte die zweite Tür auf und zog den Häftling aus der Limousine.
Sie trugen den schlaffen Mann in die Knochenkirche von John D’Arqueville.
Der prêt’ savan – Berater des offiziellen Voodoo-Houngans der Stadt in Kirchenangelegenheiten – reichte Mary kaum bis an die Schultern. Seine aufmerksamen Augen folgten ihr mit einem leicht schockierten und vielleicht ein wenig ehrfürchtigen Ausdruck. Er schien sie zu erkennen und schüttelte völlig perplex den Kopf, als er ihnen durch den Mittelgang zwischen den Kirchenbänken zu einem Doppelaltar – gestreifte Säule neben lebensgroßem Kruzifix – vorn in der Kirche folgte.
Das Kruzifix sah sehr alt aus, ein dunkles, hölzernes T, an dem ein schwarzer Jesus in muskelverkrampfter Agonie hing. Blut von der Dornenkrone hob sich hellrot gegen das Ebenholzschwarz des Gesichts ab; um den Fuß des Kreuzes wand sich eine leuchtend grüne Schlange, deren schwarze Zunge in einem unheilverkündenden Vorschnellen erstarrt war.
Im Innern der Kirche roch es nach süßem Wachs und poliertem Holz mit einem leichten Hauch von Feuchtigkeit. Kerzen brannten in Leuchtern an den Wänden, in Ständern längs der Außengänge und des Mittelgangs und in geneigten Reihen vor dem Doppelalter von Voodoo und Katholizismus, wie ein lebender Lichterchor. In dem hohen Gewölbe der Kirche waren jedoch keine Kerzen, und während sie den Häftling auf eine von Gebetskissen gepolsterte Kirchenbank legten, dauerte es einige Minuten, bis sich Marys Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten und sie sehen konnte, was dort oben um sie herum war.
Ihr blieb vor Verblüffung der Mund offenstehen. Von dem Gewölbe und den Wänden über den Gängen hingen elf riesenhafte, fremdartige Figuren herunter, jede sechs bis sieben Meter groß, die langen Arme ausgestreckt, die gesichtslosen Köpfe stolz hochgereckt, die Körper schlank und mit hervortretenden Rippen, als ob sie am Verhungern oder bereits tot wären. Sie versuchte, Einzelheiten ihrer Konstruktion auszumachen und erkannte dünne Rohre, Ansammlungen von Maschinenschrott und matt glänzende rote und goldene Folie, die um ineinander verwobene Drähte und Metallstangen gewickelt war.
Heilige Alpträume mit weit ausgebreiteten Schwingen, Geschöpfe, die aus einem unirdischen Meer gefischt, gehäutet und zum Trocknen aufgehängt worden waren.
»Ist der Mann krank?« fragte der pret’ savan, die Hände besorgt gefaltet, während er über dem Häftling kniete.
»Er braucht Ruhe«, sagte Soulavier. »Wir müssen heute abend hierbleiben.«
»Ja, die Schwierigkeiten.« Der pret’ savan schüttelte den Kopf. »Wer ist das, Bruder Henri?« Er nickte zu Mary
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