Königin der Engel
Gewändern, aber eine einzelne elektrische Lampe – die einzige, die sie in der ganzen Kirche sehen konnte – legte einen weichen Lichtkreis um das Gesicht der Figur unter der Kapuze.
Abgesehen von dem gekreuzigten Jesus war sie die einzige Figur mit einem menschlichen Gesicht. Es war schwarz, und die Züge waren deutlich erkennbar: ein längliches, ovales Antlitz, eine Nase mit schmalem Rücken und großen Nasenlöchern, große, verschattete Augen mit kummervoll gesenktem Blick, Lippen, die sich auf einer Seite nach oben, auf der anderen nach unten bogen, ein mysteriöses Lächeln geheimen Schmerzes und geheimer Freude. Im Schoß der Figur lagen die schlaffen Körper von zwei Kindern auf den reichen Gewändern, eines weiß, eines schwarz. Die Augen des weißen waren im Schlaf oder vielleicht im Tod geschlossen, die des schwarzen waren weit offen und starr; ansonsten war ihr Äußeres identisch.
Soulavier folgte ihrem Blick. »Das ist Marie-Erzulie, Mutter der Loas, Mutter von Marassa, unsere Liebe Frau, die Königin der Engel«, erklärte er. Er bekreuzigte sich und zeichnete mit zwei symmetrischen Zeigefingern einen Kelch auf seine Brust.
Der prêt’ savan kam mit einem Tablett mit Brot und Obst und einem Krug Wasser zurück. Er stellte das Tablett auf eine Kirchenbank, drehte sich um und sah, daß Mary den Kopf des Häftlings auf dem Schoß hielt. Der kleine Mann erstarrte; seine Hände blieben ausgestreckt und mit gekrümmten Fingern in der Luft hängen, wie er sie von den Griffen des Tabletts gelöst hatte. Er gab ein leises Stöhnen von sich und fiel auf die Knie, bekreuzigte sich und zeichnete den Kelch auf die Vorderseite seiner Robe. Dann faltete er betend die Hände. »Pieta«, sagte er immer wieder. »Pieta!« Er verneigte sich tief vor ihr, wobei er Worte murmelte, die sie nicht verstand. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Gesicht tränenüberströmt. Er wandte sich mit angsterfüllten, glänzenden Augen an Soulavier und fragte ihn: »Du hast sie hergebracht. Was ist sie, Henri?«
Soulavier schenkte Mary das schönste Lächeln, das sie bisher auf Hispaniola gesehen hatte. »Sie sind jemandem ähnlich, wissen Sie«, erklärte er ihr in vertraulichem Ton. Er ging zu dem prêt’ savan und hob ihn auf. »Hör auf damit, Charles«, sagte er sanft. »Sie ist ein Mensch, genauso wie du und ich.«
Sie schliefen auf den Kirchenbänken. Irgendwann am frühen Morgen wurde der Häftling mit einem Ruck wach und stieß einen kurzen, heiseren Schrei aus. Mary rappelte sich auf und sah ihn über die Rücklehne der Kirchenbank hinweg an.
»Ist es vorbei?« fragte er und ließ den Blick zweifelnd durch die Kirche schweifen.
»Sie sind frei«, sagte Mary.
»Nein«, sagte er und versuchte aufzustehen. »Ich brauche meine Kleider. Meine richtigen Kleider. Was ist das hier, eine Kirche?« Er schaute zu den großen Figuren hinauf, schrak zusammen und setzte sich mit einem dumpfen Laut wieder hin.
»Schon gut. Sie sind jetzt nicht unter der Klammer.«
»Ich verstehe«, sagte der Mann. »Wer hat mich rausgeholt?«
»Er.« Mary zeigte zu Soulavier hinüber, der sie schlaftrunken von der anderen Seite des Gangs aus beobachtete.
»Sie haben gesagt, ich wäre ein Mörder. Ich müßte für meine Verbrechen bestraft werden. Oh Gott, ich erinnere mich…« Er hob die Hände; seine Fäuste waren geballt, sein Gesicht vor Schmerz verzerrt. »Ich muß jetzt nach Hause. Wer bringt mich heim?«
»Wo wohnen Sie?«
»In Arizona. Prescott, Arizona. Ich bin nur hergekommen…« Er hielt inne, rieb sich die Augen und legte sich wieder auf die Seite. Mary beugte sich über die Rücklehne seiner Bank, um ihn anzusehen.
Der prêt’ savan hörte sie reden und kam von seinem Feldbett in der Vorhalle bei der Eingangstür ins Kirchenschiff. »Ich hole etwas«, sagte er. »Ein gutes Getränk für Leute, die gesehen haben, was er gesehen hat.«
Er verschwand hinter dem Doppelaltar und kam kurz darauf mit einem dicken Tonkrug zurück, der mit Bast umhüllt und in ein rotes Tuch gewickelt war. Er goß eine milchige, nach Kräutern riechende Flüssigkeit in ein kleines Glas und hielt es dem Häftling hin. »Bitte trinken Sie«, sagte er.
Der Mann richtete sich auf einen Ellbogen auf. Er roch an dem Glas, nahm einen kleinen Schluck und erschauerte, trank es jedoch aus. Nach ein paar Minuten hörte er auf zu zittern und setzte sich wieder hin. »Niemand wollte mir zuhören«, sagte er. »Sie haben behauptet, ich lüge. Sie
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