Königin der Engel
Mary, mein Schatz.«
Sie stand neben dem zylindrischen alten Terminal, sah fast seine alten Schrammen und Dellen und die anderen städtischen Abnutzungserscheinungen und fragte sich, warum ihr die Aussicht auf eine Reise nach Hispaniola derart zu schaffen machte. Wenn sie wirklich aus den Combs käme, würde sie einen Trip zu den relativ gefahrlosen Lastern von Yardleys Staat vielleicht genießen. Aber das war nicht der Fall. Sie war Bürgerschützerin und außerhalb ihres Sicherheitsbereichs. Sie kannte LA und das umliegende Gebiet; Hispaniola kannte sie nicht.
Heiligabend. Das hatte sie ganz vergessen. Kurzes Bild: ein drei Meter hoher Zuchtbaum in einem Vorort von Irvine, mit Glitzerkram und kunstvoll geblasenem Glas aufgeputzt, ein heller Hologrammstern an der Spitze, der blinkte und glänzte und Licht ins Wohnzimmer mit der hohen Decke warf, ihr Bruder Lee, der sein Elektroauto auf sie zurasen ließ, während sie versuchte, seinen Schulterharnisch mit einem körnigen roten Lichtpunkt aus ihrer Pistole zu treffen. Schon damals maskuline PD-Mentalität.
Lee würde garantiert nicht vergessen haben, daß Weihnachten war. Das letzte, was sie von ihm gehört hatte, war, daß er das Heim einer christlichen Gemeinde in Green Idaho leitete. Sie zwinkerte die Bilder weg. Weihnachten war auf mehr als eine Art vorbei; sie gehörte jetzt nicht mehr zu ihrer Familie, ebensowenig wie sie Christin war.
Morgen früh, am ersten Weihnachtstag, würde sie wahrscheinlich auf dem Weg nach Hispaniola sein.
Sie ließ den Blick durch den tiefen Schatten schweifen, schaute zum Schwarz Grau und Orange des Fußes, zu den winzigen Lichtblitzen der Warnlampen Meissnerscher Tüchtigkeit hinauf. Spiegel an den nördlichen und östlichen Combs auf der anderen Seite der Stadt änderten ihre Stellung und bereiteten sich auf die Nacht vor, und diese Zinken-Wohngegend trat in die ihr zugewiesene Dunkelphase ein.
Mary Choy ließ sich von einem vorbeikommenden PD-Transporter mitnehmen. Sie saß in dem Minibus, trank Kaffee und unterhielt sich mit ihren Kollegen, während sie in einem Stau standen und darauf warteten, daß er sich auflöste. Sie versuchte sich zu entspannen und die aufgestaute Mutlosigkeit abzubauen, die innere Blockade, die auftrat, wenn ihre Nachforschungen tatsächlich nichts ergaben.
»Sie sind an Goldsmith dran, stimmt’s?« fragte ein Officer der Fußstreife, den sie in seinem ersten Monat betreut hatte. Er hieß Ochoa, ein großer Hispanic mit breitem Gesicht und dunklen, ruhigen Augen. Er saß ihr mit seiner Partnerin gegenüber, einer leichtgewichtigen, drahtigen Weißen namens Evans.
»Ja, stimmt«, sagte sie.
Ochoa nickte weise. »Ich dachte, Sie sollten’s wissen. Unten in Silverlake geht das Gerücht um, daß Goldsmith von einem Killer im Auftrag eines hohen Tiers ermordet worden ist, dem Vater von einem der Opfer.«
Sie sah ihn zweifelnd an.
»Das sagen die Leute«, erklärte er. »Ich verbürge mich nicht dafür, ich geb’s bloß weiter.«
Jetzt war es an Mary, weise zu nicken. Ochoa schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Sie glauben’s nicht?«
»Er ist am Leben«, sagte sie.
»Ist auch viel befriedigender, wenn man sie lebendig schnappt«, pflichtete ihr Ochoa bei. Seine Partnerin legte den Kopf schief.
»Oder sie selbst umlegt«, ergänzte Evans. Ochoa verzog sein Gesicht zu einem Ausdruck offizieller Mißbilligung.
»Therapiert mich doch«, sagte Evans.
Marys Gedanken schweiften ab. Sie sah die beiden zwar noch an, nahm sie jedoch gar nicht mehr richtig wahr. Ihr Verstand begann zu arbeiten; sie stemmte geistige Felsen hoch, um die Ideenkäfer darunter zu sehen.
Vielleicht war an dem Gerücht von Silverlake etwas dran. Vielleicht wurde Goldsmith von jemandem versteckt, von einem Bekannten aus der Literaturszene zum Beispiel. Es konnte sogar sein, daß ein loyaler Leser unter den Therapierten in den Combs so weit ging und seine freimütigen Zweifel an der sozialen Gerechtigkeit auf diese Weise zum Ausdruck brachte. Ihr Zorn wuchs. Sie wollte diesen hypothetischen loyalen Leser mit seinen Zweifeln an der Gesellschaft und der Gerechtigkeit nehmen und ihn oder sie in die tiefgefrorene Wohnung schubsen, damit er/sie den Anblick in sich aufnehmen konnte. Hypothetischer Dialog: Ja, aber können Sie beweisen, daß es Goldsmith war?
Steht so gut wie fest.
Wissenschaftliche Analyse. Wie zuverlässig ist das? Sich auf Maschinen zu stützen, um einen Menschen ohne Gerichtsverfahren zu verurteilen.
Hier
Weitere Kostenlose Bücher