Koenigin der Meere - Roman
Die Piraten blieben stumm. Den meisten Männern fiel es schwer, tatenlos zusehen zu müssen, wie der großspurige Virgin den bei allen beliebten Read umbringen würde. Kaum einer zweifelte daran, dass er das Duell für sich entscheiden würde.
Rackham hatte sein Versprechen vom Vorabend nicht gehalten. Statt, wie es seine Aufgabe als Kapitän gewesen wäre, dem Duell als Schiedsrichter beizuwohnen, schlief er seinen Rausch aus.
Finch und Anne nahmen ihre Plätze in einigem Abstand von den Kontrahenten ein und zählten laut bis zehn.
Auf ihr Kommando krachten die beiden Schüsse kaum einen Herzschlag auseinander. Weder Virgin noch Mary hatten getroffen. Virgin warf seine Pistole in den Sand und griff zum Säbel. Wie ein wilder Stier rannte er auf Mary zu, um ihr die Waffe in den Leib zu rammen. Mit einem eleganten Satz wich sie ihm aus und ließ ihn ins Leere laufen. Die Piraten lachten. Virgin schnaubte und drehte sich wütend zum erneuten Angriff um, doch auch sein zweiter Hieb verfehlte das Ziel.
Geschickt sorgte Mary dafür, dass Virgin stets im weichen, trockenen Sand stand und sie selbst den festeren Boden unter den Füßen behielt. Sie focht, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
Beinahe eine halbe Stunde war vergangen. Virgin atmete schwer, der Schweiß rann ihm in die Augen, die aufsteigende Sonne blendete ihn, wie Rackham es vorausgesagt hatte. Mary ließ keinen ihrer Vorteile ungenutzt. Bis auf einen kleinen Schnitt am Oberarm und einen
klaffenden Riss in der Hose war sie unversehrt. Virgins Narbe leuchtete vor Anstrengung purpurrot, und Anne hoffte, dass ihn der Schlag treffen würde, bevor er dazu kam, Mary eine tödliche Verletzung zuzufügen.
Und dann geschah es. Von Marys Ausfallschritten zurückgetrieben, übersah Virgin einen Ast, der hinter ihm aus dem Sand ragte, strauchelte und fiel zu Boden. Mit einem raubkatzengleichen Sprung war Mary sofort über ihm. Den Rücken zu den Zuschauern gekehrt, hielt sie ihm den Säbel an die Kehle und zwang ihn mit einem heftigen Tritt auf den Unterarm, seine Waffe loszulassen. Die Piraten johlten Beifall und wollten losstürmen, da wandte Anne sich um und rief: »Stehenbleiben! Es ist noch nicht vorbei!« Augenblicklich herrschte Stille. Virgin hatte die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt und suchte nach einem Weg, sein Leben zu retten. Marys Säbel ritzte bereits seine Haut, Virgin spürte, dass ein dünnes Blutrinnsal seinen Hals hinablief. Ohne sich zu bewegen, schrie er aus Leibeskräften: »Was steht ihr herum! Kommt her und helft mir! Hört nicht auf Bonny! Er ist ein Weib und hat euch nichts zu sagen!« Mary ließ ihm keine Zeit, weiterzusprechen. Mit einem Griff öffnete sie ihr Hemd und gab den Blick auf ihre weißen Brüste frei.
»Schau genau her, du Mistkerl. Nicht nur Bonny ist eine Frau! Ich auch! Und jetzt fahr in die Hölle, in die du mich schicken wolltest, und erzähl da unten, dass du den Kampf gegen ein Weib verloren hast.« Kraftvoll versetzte sie ihm den Todesstoß. Dann stopfte sie ihr Hemd wieder in die Hose, hob triumphierend die blutverschmierte Waffe und ließ sich erschöpft in den Sand fallen.
Während die Piraten Mary auf ihren Schultern zum Schiff trugen, stand Otis Finch neben dem Leichnam. Er schloss dem Toten die Augen, löste die Schärpe des verstorbenen Freundes und schnitt die darin eingenähten Achterstücke heraus. Dann begrub er ihn.
Mary saß auf einer Kiste und streckte Foster ihr rechtes Bein entgegen. Mit geübtem Blick begutachtete er den Riss, den Virgins Säbel hinterlassen hatte.
»Das hätte leicht schiefgehen können, ein paar Millimeter tiefer, und du wärst verblutet.« Foster hielt den Stoff mit beiden Händen auseinander. Die Berührung seiner Finger auf ihrer bloßen Haut verursachte
ein heftiges Kribbeln. Mary musste sich mühsam beherrschen, um es zu verbergen. Foster spürte ihre Gänsehaut, wunderte sich über ihre weichen, glatten Oberschenkel, sagte aber nur: »Ich kann dir das nähen, aber dafür musst du die Hose ausziehen.« Mary stand auf, um sich unter Deck umzuziehen. Auf der schmalen Treppe traf sie Anne, die gerade aus Rackhams Kajüte kam.
»Lange geht das nicht mehr gut. Er trinkt jeden Tag so lange, bis er zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig ist. Ich glaube kaum, dass die Leute das noch lange mitmachen. Aber vor allem glaube ich nicht, dass ich es noch lange mitmache«, murrte sie im Vorbeigehen.
Während Anne in Rackhams Namen auf der Neptun
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