Koenigin der Meere - Roman
ein Geräusch geben, das die anderen weckte. Mit einer blitzartigen Bewegung stieß sie Virgin ihr linkes Knie zwischen die Beine, zog ihr Messer aus dem Gürtel und hielt es dem angetrunkenen Mann an die Kehle. Der zuckte mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.
»Wenn du mich anrührst, schneide ich dir die Gurgel durch, du Dreckschwein. Wag es nicht!« Annes grüne Augen funkelten katzenartig im Dunkel der Nacht.
»Du wirst verdammt noch mal deinen Mund halten. Vergiss nicht, dass du mir etwas schuldest. Ich habe dein Leben gerettet!« Virgin rollte zur Seite.
»Ich habe dein Leben gerettet!«, äffte er sie nach. »Was schert’s mich, was du für mich getan hast. Ich will, dass du die Beine für mich breit machst«, lallte er und griff sich in den schmerzenden Schritt.
»Niemals! Troll dich und schlaf deinen Rausch aus.« Sie stand auf und ließ den verdutzten Virgin liegen.
Schlaflos verbrachte sie die Stunden bis zum Morgengrauen. Virgin war eine ernsthafte Bedrohung. Am einfachsten wäre gewesen, ihm das Messer in den Bauch zu rammen und ihn über Bord zu werfen, bevor jemand es bemerkte. Anne schauderte. Phibbahs entsetztes Gesicht,
ihre aufgerissenen Augen, das Röcheln aus ihrer Kehle kamen ihr in den Sinn. Selbst bei einem Mann wie Virgin wollte sie so etwas Schreckliches nie mehr tun. So blieb ihr fürs Erste nur die Hoffnung, dass Virgin Stillschweigen bewahrte, und sie Zeit zum Nachdenken gewann.
Bereits am Morgen wurde deutlich, dass Virgin keineswegs vorhatte, sie zu verraten. Stattdessen suchte er, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihre Nähe, leckte sich lüstern die Lippen, zwinkerte ihr zu und fasste ihr in unbeobachteten Momenten an Brust und Hinterteil.
Anne verstand. Was er wollte, war nur zu haben, wenn er zunächst den Mund hielt. Sie würde sehr auf der Hut sein und darauf achten müssen, möglichst nie alleine zu sein. Sie beschloss, sich Mary anzuvertrauen.
»Schade, dass wir ihm nicht sagen können, dass zwei Frauen an Bord sind«, feixte die. »Soll er nur kommen. Mit dem werden wir leicht fertig.« Dank Marys Zuversicht besserte sich Annes Stimmung.
Niemand außer Virgin fiel auf, dass die beiden sich stets Arbeiten suchten, die sie zu zweit erledigen konnten. Er beobachtete Anne mit Argusaugen. Mit jedem Tag, den es ihm nicht gelang, sich ihr zu nähern, wuchs sein Zorn. Seine Unzufriedenheit machte ihn streitsüchtig. An allem und jedem hatte er etwas auszusetzen, war reizbar und angriffslustig. Selbst Finch, der ihm bis dahin treu zur Seite gestanden hatte, mied seine Gegenwart.
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N icht einmal Anne bemerkte, dass Mary sich in Mike Foster verliebt hatte. Der junge Segelmacher hielt sich an sein Versprechen und verrichtete seine Arbeit Tag für Tag still und beständig. Er sprach kaum, saß immer am Bug, besserte verschlissene Stellen aus und nähte aus Resten Jacken für die Piraten. Mit Teer oder Pech imprägniert, eigneten sich diese Kleidungsstücke nicht nur zum Schutz vor Regen, sondern hielten im Kampf den einen oder anderen gegnerischen Hieb ab. Manchmal leistete Mary ihm Gesellschaft und bewunderte seine Fingerfertigkeit.
»Was macht eigentlich ein Bursche wie du bei diesen ungehobelten Kerlen?« Foster sah von seiner Arbeit auf. Mary schaute nachdenklich über die Reling.
»Ich habe früher auf einem Handelsschiff gedient. Das Essen war noch schlechter, von der Heuer konnte kein Mensch leben, und der Kapitän schrie den ganzen Tag herum und ließ uns wegen der kleinsten Kleinigkeit auspeitschen. Hier geht es zwar derb zu, aber zumindest bekommt man einen anständigen Anteil und wird nicht schikaniert. Ist das Grund genug?« Foster rümpfte verächtlich die Nase.
»Kommt auf die Sichtweise an. Dafür tötet ihr unschuldige Menschen, stehlt wie die Raben und nehmt Leute wie mich gefangen.«
»Ich habe dir versprochen, dass du im nächsten Hafen Gelegenheit bekommst abzuhauen. Bis dahin musst du dich gedulden. Ist es denn so schlimm hier?«
»Was heißt schlimm. Über die Behandlung kann ich mich nicht beklagen, aber es passt mir nicht, dass ich für einen Haufen gesetzloser
Halunken arbeiten muss, und es passt mir noch weniger, dass ich jeden Tag Angst haben muss.«
»Angst? Wovor?« Mary sah ihn verwundert an.
»Angst davor, dass ein Marineschiff kommt, die Neptun aufbringt und uns allesamt dem Gouverneur vorführt. Du meinst doch nicht im Ernst, dass der mir glaubt, wenn ich ihm sage, dass ich nicht freiwillig hier bin.« Unwirsch legte er das Segel,
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