Koenigin der Meere - Roman
unterwegs. Wir waren auf dem Weg nach Hispaniola, um hier Geschäfte zu machen. Sie haben uns alles abgenommen, auch unsere Waffen, und uns nur diesen Kahn hier gelassen.«
»Führ mich zu deinem Kapitän«, sagte Barnett und ließ die Pistole sinken. Der Quartiermeister nahm langsam seine Hände herunter.
»Sir, ich fürchte, Mr. Hudson kann nicht mehr viel für Sie tun.« Er deutete auf den abgebrochenen Mast.
Harry Hudson lag mit zertrümmertem Brustkasten und einer klaffenden Platzwunde am Kopf auf dem Boden. Barnett ging zu ihm und nahm den Dreispitz ab.
»Möge Gott seiner Seele gnädig sein«, sagte er und schlug ein Kreuz über dem Toten. Dann wandte er sich um und befahl seinen Männern den Rückzug.
Im Hafen von Hispaniola herrschte helle Aufregung. Spanische Soldaten kamen, um die Ursache für die Schießerei zu ergründen. Jonathan Barnett hatte Mühe, seinen Irrtum zu erklären. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als Woodes Rogers Lederbeutel zu öffnen und die Überlebenden der Pleasure mit Goldstücken zu entschädigen. Der schmachvolle Vorfall steigerte seinen Hass auf Rackham und seine Bande. Als die Mannschaft der Harbinger am Abend wieder vollzählig an Bord war, ließ Barnett die Segel hissen und stach in See, um Jagd auf die Royal Queen zu machen. Wenn der Quartiermeister die Wahrheit gesprochen hatte, konnte sie nicht allzu weit entfernt sein. Barnett setzte darauf, dass seine Slup wesentlich schneller als das große, behäbige Handelsschiff war.
Die Stimmung auf der Royal Queen hätte nicht besser sein können. Begleitet von den Musikern, grölten die Männer Seemannslieder und genossen den Luxus des Schiffs. Harry Hudson hatte Jahre damit verbracht, seinen Lebenstraum zu erfüllen, und an nichts gespart. Die Hängematten der Mannschaft waren aus weichem Garn gewebt und mit Kissen versehen. Von der Bilge bis zum Achterdeck war alles aus edlem Holz und in hervorragendem Zustand. Die Vorratskammer zerbarst vor Köstlichkeiten, wie sie sonst auf See kaum zu finden waren,
und was der Blick in den Laderaum freigab, ließ die Herzen der Mannschaft höher schlagen. Die dort gelagerten Güter brachten den süßen Geschmack von Geld und Gold auf die Zunge.
In den ersten beiden Tagen hatte Anne so viel zu tun gehabt, dass ihr kaum Zeit blieb, sich mit ihrem großen Problem zu beschäftigen. Jetzt war die Besatzung in die notwendigen Schichten eingeteilt. Mit Kurs auf Madagaskar glitt die Royal Queen über das Meer. Es hatte keiner großen Worte bedurft, um die Mannschaft von ihrer Idee zu überzeugen. Die Piraten waren bereit, ihrem weiblichen Kapitän bis ans Ende der Welt zu folgen. Und in etwa dorthin wollte sie auch segeln. Anne Bonny hatte sich in den Kopf gesetzt, einmal in ihrem Leben eine Tour zu absolvieren, die von den Kaperfahrern »die Runde« genannt wurde.
»Die Runde« führte von Nordamerika über den Atlantik nach Westafrika vor die Küste Guineas; dort lockten Sklavenschiffe mit reicher Beute. Anne hatte nicht vor, sich am Handel mit Menschen zu beteiligen, aber die Tauschwaren, die die Schiffe aus Europa und Amerika nach Afrika brachten, versprachen hohe Gewinne. Im Anschluss wollte sie das Kap der guten Hoffnung umsegeln. Die Royal Queen würde den witterungsbedingten Gefahren leicht trotzen. Anne plante einen Abstecher in den Indischen Ozean, wo es sich ausgezeichnet plündern ließ, um danach die Heimreise anzutreten.
Das erste Ziel war Madagaskar, ein berüchtigter Piratenschlupfwinkel. Dort wollte Anne die Ladung der Royal Queen verkaufen. Ihre Mannschaft sollte sich ein paar Tage an Land vergnügen, um dann die weite Reise mit neuen Kräften und frischem Proviant anzutreten.
Vielversprechende Zukunftsaussichten, wenn nur Calico nicht wieder angefangen hätte zu trinken. Anne ging unter Deck, um nach ihm zu sehen. In der Kajüte bot sich ihr das gewohnte Bild. Rackham lag auf dem Rücken und schnarchte. Speichel rann aus seinem offenen Mund über das Kinn auf sein Hemd. Die ganze Kajüte stank nach Alkohol und Schweiß. Anne fühlte unbändige Wut. Was war nur aus dem Mann, den sie liebte, geworden. Sie setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete ihn. Ihr Zorn wich tiefer Verachtung. Je länger sie Calico betrachtete, umso klarer wurde ihr, dass die gemeinsamen Tage gezählt waren. Am liebsten hätte sie ihn in ein Boot gesetzt und ihn
seinem Schicksal überlassen. Die Mannschaft würde dem zustimmen, aber Rackham war der Vater ihres Sohnes. Grübelnd
Weitere Kostenlose Bücher