Koenigin der Meere - Roman
stützte Anne den Kopf in die Hände und fasste einen Entschluss. Sie würde Rackham die Kajüte überlassen. Dort war er wenigstens von den anderen abgeschirmt. Sie selbst würde ab sofort in einer der Hängematten schlafen. Sie verließ die Kajüte mit energischen Schritten und kletterte in den Ausguck. Mary stand im Krähennest und ließ den Blick bis zum Horizont schweifen. Anne gesellte sich zu ihr und seufzte.
»Calico ist schon wieder oder, besser, immer noch besoffen. Ich habe genug und werde ihm nicht mehr helfen. Soll er sich meinetwegen sein letztes bisschen Hirn wegspülen.« Mary nahm sie in den Arm.
»Je früher du ihn abschreibst, umso besser. Ich wollte dir schon in Hispaniola vorschlagen, ihn einfach dazulassen. Mach dir keine Sorgen, ich lasse dich nicht im Stich. Irgendwie werde ich Mike schon dazu kriegen, dass wir noch eine Weile bei dir bleiben. Er hat inzwischen auch begriffen, dass er nie wieder so viel Geld bekommen wird wie auf einem Piratenschiff.« Die beiden Frauen saßen Schulter an Schulter und schwiegen. Plötzlich sprang Mary auf.
»Anne! Sieh mal dort, backbord! Wenn das kein Schiff ist, heiße ich nicht Read!« Anne folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger und sah die schlanke hohe Silhouette eines Dreimasters, der parallel zur Royal Queen durch die Wellen pflügte. Mary beugte sich über den Rand des Korbes und rief so laut sie konnte: »Backbord! Schiff in Sicht!« Sofort herrschte rege Betriebsamkeit an Deck. Anne verließ den Ausguck und ging mit dem Fernstecher an die Reling. Das Schiff war um einiges größer als die Royal Queen . Enorme Segel blähten sich im Wind und sorgten dafür, dass es deutlich schneller war.
»Hisst jeden Fetzen, den wir haben, sonst holen wir die nie ein!«, befahl Anne.
Die Royal Queen gewann an Geschwindigkeit. Drei Stunden später hatte sie beinahe aufgeholt. Anne erkannte, dass es sich um ein indisches Schiff handelte. Sie rief die Mannschaft zusammen.
»Rosebud, geh mit Tucker in die Kombüse und bring so viel kalte Kohle, wie du hast. Denen werden wir eine Überraschung bereiten, wie sie sie noch nie erlebt haben. Männer, zieht eure Hemden aus
und reibt euch Gesichter und Oberkörper mit Kohle ein. Ich will, dass ihr schwarz wie die Raben seid, wenn wir näher herankommen. Und dann alle Instrumente aufs Achterdeck, vor allem die Trommeln!« Anne nahm ein Stück Holzkohle und schwärzte ihr Gesicht. Dann bearbeitete sie ihr Hemd, bis es keinen weißen Flecken mehr auf wies.
»Wenn es dunkel ist und sich auf dem Schiff nichts mehr regt, kommen wir von hinten heran und halten uns in Deckung, bis wir nah genug zum Entern sind. Foster, du gehst aufs Achterdeck. Nimm vier Männer mit. Auf mein Kommando fangt ihr an, mit den Instrumenten einen Lärm zu veranstalten, wie ihn noch kein menschliches Ohr gehört hat. Wir anderen brüllen wie die Teufel. Habt ihr verstanden, Leute? Es wird nicht geschossen, nur geschrien. Diese Inder glauben an Götter, wir zeigen ihnen, dass es auf See Dämonen gibt, gegen die kein Gebet hilft. Sie werden sich zu Tode erschrecken und versuchen, ihre Seelen zu retten, indem sie uns alles geben, was sie besitzen.«
Während sich die Royal Queen den indischen Kaufleuten näherte, beschmierten sich die Piraten gegenseitig, bis das Weiß ihrer Augen gespenstisch aus ihren schwarzen Gesichtern leuchtete. Anne ließ die Segel so geschickt setzen, dass sie nicht zu nah an ihre Beute herankamen. Weder mit bloßem Auge noch mit dem Fernstecher war zu erkennen, was auf der Royal Queen geschah. Eine Weile beobachteten die Inder das herankommende Schiff argwöhnisch, hielten es jedoch für ungefährlich, als sie merkten, dass sich der Abstand nicht weiter verringerte. Mit Anbruch der Nacht verrichteten sie ihre Andacht, löschten die Lichter auf Deck und begaben sich zur Ruhe. Die Aufmerksamkeit der Wachleute ließ nach, als sie sahen, dass auch auf der Royal Queen die Laternen ausgingen.
Messer und Pistolen in den Gürteln, erklommen die Piraten lautlos im Schutz der Segel Wanten und Takelage und hielten sich bereit.
Anne stand auf dem Achterdeck. Dort hatten die vier Männer um Foster wie befohlen ihre Plätze eingenommen. Punkt Mitternacht lag der Bug der Royal Queen auf gleicher Höhe mit dem Heck der Inder. Auf Annes Zeichen ertönte vom Achterdeck infernalischer Lärm. Anne sprang vor den Hauptmast.
»Klar zum Entern!« Begleitet von mörderischem Gebrüll warfen
die Piraten die Enterhaken und schwangen sich an Bord
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