Koenigin der Meere - Roman
des indischen Schiffes. Hochgeschreckt von dem furchterregenden Krach taumelten die ersten Matrosen verschlafen an Deck und begannen hysterisch zu schreien. Zitternd sanken sie auf die Knie und hoben flehend die Hände. Eine Horde wilder Dämonen in Menschengestalt stand ihnen gegenüber, umkreiste sie und hielt ihnen drohend die Messer an die Hälse. Gefolgt von sechs Offizieren betrat der Kapitän in Nachthemd und Schlafmütze das Deck und sah, dass die Lage aussichtslos war. Wenn er das Leben seiner Männer und der hochrangigen Passagiere, die sich unten in den Kabinen verschanzt hatten, nicht riskieren wollte, musste er sich auf der Stelle ergeben. Auch er sank auf die Knie und beugte zum Zeichen der Kapitulation den Nacken.
Anne gab das verabredete Zeichen. Die Mannschaft verstummte.
»Read, du hältst den Kapitän in Schach! Fetherston, Carry, Corner und Howell, ihr kommt mit mir, die anderen kümmern sich um die Matrosen. Blut wird nur im äußersten Notfall vergossen!« Mit gezücktem Entersäbel stürmte Anne unter Deck. Die Schlafplätze der Besatzung waren verlassen, alle Matrosen an Deck und unter Kontrolle. Neben der Kapitänskajüte befanden sich drei Kabinen, deren Türen verschlossen waren. Anne klopfte mit der Faust gegen die erste. Drinnen rührte sich nichts. Anne pochte heftiger, doch alles blieb still. Mit einem kräftigen Fußtritt hob sie die Tür aus den Angeln. In der Kabine saßen, in vornehmste Nachtgewänder gehüllt, zwei junge Frauen, die sich ängstlich aneinanderklammerten. Annes schwarzes Gesicht, der Säbel in ihrer Hand ließ eine von ihnen in Ohnmacht fallen. Die andere faltete die Hände zum Gebet, senkte den Kopf und begann unverständliche Worte zu murmeln. Tränen liefen über ihre Wangen. Anne ging auf sie zu und bedeutete ihr mit Zeichen, dass sie ihre Gefährtin wecken und sich anziehen solle. Sie sah sich um.
»Ich will verflucht sein, wenn das nicht die feinste Kabine ist, die ich jemals in meinem Leben gesehen habe.« Die Einrichtung war aus dunklem Holz und mit zierlichen Schnitzereien versehen. Auf dem Boden lagen Kissen und Polster in Gelb- und Orangetönen, mit goldenen Fäden durchwirkt. Von der Decke hingen drei Laternen aus mehrfarbigem Glas, die den ganzen Raum in warmes Licht tauchten. Annes Blick fiel auf den Tisch. Ausgebreitet auf einem tiefblauen Seidentuch
lagen Ketten, Ringe, Ohrschmuck und Armreifen. Sie schlug das Tuch mit einem Griff zusammen, verknotete es und ließ es in ihrer Tasche verschwinden.
»Fetherston, stell dich vor die Tür und pass auf, dass die beiden Goldvögelchen uns nicht entkommen. Und wenn sie angezogen sind, siehst du dich hier mal gründlich um. Wo so viel auf dem Tisch ist, findet sich noch mehr in den Truhen. Nimm alles mit, auch die Kleider.«
Anne klopfte gegen die zweite Tür. Sie öffnete sich einen kleinen Spalt. Anne sah in das Gesicht eines etwa achtjährigen Jungen. Die großen braunen Augen des Knaben erinnerten sie an Jubilo. Sie drückte sanft die Tür auf und betrat die Kabine. Drei weitere Kinder, jünger als das erste, saßen zusammengekauert auf dem Bett. Anders als die Erwachsenen betrachteten sie Anne eher neugierig als ängstlich. Anne rief Patrick Carry und sagte ihm, er solle die Kabine der Kinder sorgfältig durchsuchen.
»Vielleicht haben sie ein paar Juwelen bei den Kleinen versteckt. Aber erschrick sie nicht unnötig.«
Richard Corner stand vor der dritten Kabine und hieb mit der Faust gegen die Tür. Auch hier wurde nach dem zweiten Schlag geöffnet. Eine füllige Matrone mittleren Alters sah ihn aus angstgeweiteten Augen an und stieß bei seinem Anblick einen spitzen Schrei aus. Anne schob ihn zur Seite und bedeutete ihr, den Sari anzulegen. Auch diese Kabine war erlesen ausgestattet. Anne strich über ein rotes Samtpolster, an dessen vier Ecken schwere silberne Quasten hingen.
»Das ist ein Märchenschiff, ein schwimmender Palast.« Sie positionierte Corner vor der Tür.
»Wenn sie fertig ist, schau nach, was sie außer einem dicken Bauch zu verbergen hat. Ich will alles auf der Royal Queen haben, Kleider, Schuhe und vor allem die Uniformen von Kapitän und Offizieren!«
Anne ging mit John Howell in den Laderaum.
»Alle Wetter! Das blendet ja.« Howell sah sich beeindruckt um. Der Frachtraum des indischen Schiffes war so sauber und ordentlich, als wäre er zu Ausstellungszwecken hergerichtet worden. Anne pfiff durch die Zähne.
»So muss ein Schiff aussehen, was, Howell? Da können wir
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