Koenigin der Meere - Roman
tanzten Arm in Arm zu den schrägen Tönen, die das geschundene Instrument von sich gab, und besiegelten so ihren heimlichen Pakt. Die anderen Männer sangen, klatschten und stampften mit den Füßen den Takt. Einige lagen auf dem Boden oder in ihren Hängematten und schnarchten selig. Anne wusste, dass es für ein Machtwort längst zu spät war. Schweigend zog sie sich zurück und ging auf das Achterdeck. Minuten später waren auch die restlichen Piraten unter Deck verschwunden und gaben ihr Bestes, den Vorsprung der Kameraden so schnell wie möglich aufzuholen.
Mary leistete ihrer Freundin Gesellschaft und sagte tröstend: »Ärgere dich nicht, Bonny. Es sind Männer. Was erwartest du. Wenn sie so viel Alkohol in die Finger bekommen, sind sie unberechenbar. Morgen schlafen sie ihren Rausch aus, dann haben sie einen Kater, aber keinen Schnaps mehr, und dann geht alles ganz normal weiter. Du hast selbst gesagt, dass wir jede Menge Zeit haben.« Anne seufzte.
»Ich weiß, und es stimmt ja auch, aber ich wüsste gerne, wo sie das Zeug herhaben. Irgendwo muss es versteckt gewesen sein, hast du davon gewusst?«
»Was denkst du von mir. Wenn ich es auch nur geahnt hätte, hätte ich dir Bescheid gesagt!« Sie stand auf.
»Ich gehe und hole uns zwei Decken. Ich schlafe heute Nacht nicht da unten in diesem Affenstall. Hier oben ist es leiser, und außerdem ist die Luft besser.« Die beiden Frauen richteten ihre Nachtlager und schliefen ein.
Unter Deck wurde noch immer laut gefeiert. Rackham war in seinem Element.
»Tucker, komm her, du kleiner Bastard! Hör, was dein Kapitän dir zu sagen hat! Geh rauf und hiss unsere Fahne. Soll er doch kommen, dieser Barnett, wir werden ihm einen feurigen Empfang bereiten. Ich will, dass er gleich auf den ersten Blick sieht, mit wem er es zu tun hat. Wir sind Männer, und wir machen alles nieder, was uns in die Quere
kommt.« Die Piraten grölten. Robert Tucker, der Rackham für seine Rettung ewige Dankbarkeit geschworen hatte, ging zum Mast und tat, was Calico ihm befohlen hatte. Im Schlaf hörte Mary das Knarzen der Taue. Wenige Sekunden später flatterte am Mast weithin sichtbar Calico Jack Rackhams Flagge, ein Totenkopf über zwei gekreuzten Säbeln.
Der Himmel war sternenklar. Keine Wolke verdeckte den Mond, der in dieser Nacht eine spiegelsilberne Straße auf das Wasser malte. Getrieben von seinem Ehrgeiz, segelte Barnett auch nach Anbruch der Dunkelheit und ließ erst ankern, wenn seine Männer so erschöpft waren, dass ihm nichts übrig blieb, als ihnen eine kurze Phase der Ruhe zu gönnen.
Als der Morgen anbrach, lag die Harbinger wenige Seemeilen westlich von Jamaika entfernt. Barnett hatte Morrys Vorschlag zugestimmt, die Buchten rund um die Insel der Reihe nach systematisch zu durchkämmen.
Der erste Hafen war Port Antonio. Barnett verbot seiner Mannschaft den heiß ersehnten Landgang und nahm nur Morry mit, als er vor der beeindruckenden Kulisse der Blue Mountain Range das Ufer des Naturhafens betrat. Wenig später kehrten sie zurück an Bord. In Port Antonio hatte in jüngster Zeit niemand von Rackham oder einen seiner Männer gehört.
Ganz gleich, wo sie ankerten, das niederschmetternde Ergebnis war überall gleich. Die Harbinger segelte von der Buff Bay zur Annotto Bay, über die St. Ann’s Bay zur Runaway Bay, so genannt nach den unzähligen Sklaven, die hierherflohen, um einen Weg in die Freiheit zu finden. Nirgends gab es auch nur den Hauch einer Spur von Calico Jack Rackham und seinen Männern. Barnetts Laune verschlechterte sich von Stunde zu Stunde. Die neunschwänzige Katze in der Hand wanderte er ruhelos über das Deck, jederzeit bereit, Schläge auf den Rücken desjenigen sausen zu lassen, der seine Befehle nicht schnell genug befolgte. Mehrmals versuchte Glenn Morry vergeblich, den Kapitän davon zu überzeugen, dass er dem Unternehmen auf diese Weise mehr schadete als nutzte.
»Halten Sie sich zurück, Mr. Morry, ich warne Sie, Sie übertreten
Ihre Kompetenzen. Wir befinden uns auf Ihren Rat in dieser gottverdammten Gegend, und ich werde Sie persönlich dafür zur Rechenschaft ziehen, wenn unsere Mission misslingt!« Barnett ließ die Peitsche drohend durch die Luft zischen.
Die Stimmung an Bord war auf dem Nullpunkt. Barnetts Mannschaft war erschöpft und hungrig. In den Fässern verweste das Fleisch und stank so erbärmlich, dass es auch beim besten Willen und größten Hunger nicht mehr genießbar war. Das Wasser war brackig und faul. Jeder
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